Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Kind da, das draußen im Flur lag und weinte, und ich konnte nicht zu ihm gehen. Ich kann Ihnen nicht erklären, was das für ein Gefühl war.
    Danach ging alles in die Brüche. Meine Stimme wurde schrill, alles, was ich sagte, klang schrill. Ich erinnere mich, daß ich einmal an der Tür stand und ohne Rücksicht auf die Konsequenzen laut schrie: »Ich hasse dich!« Ich hatte das Kind im Arm und dachte: Sie hört das alles.
    Er wurde krankhaft eifersüchtig. Er bildete sich ein, ich träfe mich mit anderen Männern, während er arbeitete. Er trank jeden Tag große Mengen, fing beim Mittagessen mit Martinis an und trank nach der Arbeit in Bars und Kneipen weiter. Er wurde wütend, wenn er nachts geweckt wurde, und wenn das Kind schrie, mußte ich es sofort zum Schweigen bringen – ich hatte Angst, er würde auch die Kleine schlagen. Ich begann zu hoffen, daß er mehr reisen würde, möglichst über Wochen fortbleiben würde, damit ich endlich einmal einen klaren Kopf bekäme und zum Nachdenken Zeit hätte, aber er reiste weit weniger als sonst. Er war überzeugt, ich würde mit einem anderen Mann durchbrennen, wenn er mich allein ließ. Dann begann ich zu wünschen, er würde bei einem Flugzeugabsturz umkommen. Schockiert Sie das? Ja, es ist wahr, ich wünschte ein Flugzeugunglück herbei. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie ich sonst von ihm loskommen sollte.
    Vielleicht wegen des ewigen Trinkens, vielleicht aber auch weil er tiefer in Schwierigkeiten steckte, als selbst ich es ahnte, begann seine Arbeit zu leiden. Eine Story, an der er arbeitete, wurde gestrichen. Wenig später wurde seine Titelgeschichte abgesetzt. In der Redaktion war ein neuer Mann, der jetzt der allgemeine Liebling zu sein schien. Er hieß Mark, vielleicht kennen Sie ihn. Harrold sprach manchmal mit spöttischer Herablassung über ihn, und ich wußte, daß er sich von diesem Mann bedroht fühlte.
    Sein Leben lang waren ihm die Wörter mühelos aus der Feder geflossen, aber jetzt schien er seine Sicherheit verloren zu haben. Er gab mir die Schuld daran, und er behauptete, mein ständiges Nörgeln mache es ihm unmöglich, sich zu konzentrieren. Er sagte, die unruhigen Nächte machten in fertig und zerstörten seine Karriere.
    So merkwürdig es ist, er tat mir damals leid. Der Zusammenbruch kam so schnell, und er konnte ihn nicht aufhalten.
    Im Oktober gab es Unruhen in Quebec, und Harrold mußte nach Montreal reisen. Er hatte es geschafft, die Zeit seiner Abwesenheit auf zwei Nächte zu kürzen, aber er kam nicht um die Reise herum. Ich sah hier meine Chance. Die ganze Woche vor seiner Abreise war ich besonders nett zu ihm. Ich mußte dafür sorgen, daß er wirklich flog, ich mußte ihn davon überzeugen, daß ich ihm treu sein würde, ihn nicht verlassen würde. Ich spielte in dieser Woche das kleine Mädchen, war lieb und fügsam und so kokett, wie es mir überhaupt möglich war. Man sollte meinen, daß ihn das mißtrauisch gemacht hätte, aber er war überzeugt, daß ich eines Tages einlenken, über meinen eigenen Schatten springen würde, und er wartete immer nur auf diesen Moment. Vielleicht glaubte er jetzt, ich hätte endlich nachgegeben und eingesehen, daß ich mich falsch verhalten hatte. Ich küßte ihn, als er aus dem Haus ging, und sagte: »Komm schnell zurück.«
    Sobald er weg war und ich sicher sein konnte, daß er im Flugzeug nach Montreal saß, packte ich einen Koffer und bestellte ein Taxi. Am Flughafen kaufte ich ein Ticket und flog mit meinem Kind nach Chicago. Dort nahm ich den Zug in das Städtchen, in dem ich aufgewachsen war. Ich trug Caroline und meinen Koffer die schmale Straße hinauf zum Bungalow meiner Mutter.
    Als meine Mutter von der Arbeit nach Hause kam, rief ich strahlend: »Überraschung!« Ich sagte, ich hätte auf einmal Lust bekommen, sie zu besuchen, nur so zum Spaß. Harrold, sagte ich, sei auf einer Reportage, und ich hätte es satt, allein zu Hause herumzusitzen. Sie glaubte mir, sie hatte keinen Anlaß, an meinen Worten zu zweifeln. Und ich wollte meiner Mutter ihre Illusionen nicht rauben.
    Was ich mir dabei gedacht habe?
    Vielleicht glaubte ich, daß mir in ein, zwei Tagen etwas einfallen würde. Oder daß ich in ein, zwei Tagen in der Lage wäre, meiner Mutter zu gestehen, daß mein Mann und ich Schwierigkeiten miteinander hatten und ich Zeit zum Nachdenken brauchte. Ich weiß es heute nicht mehr. Rückblickend sehe ich, wie naiv es war, mich zu meiner Mutter zu flüchten. Das war logischerweise der

Weitere Kostenlose Bücher