Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
Alkoholiker. Ich meine, er hat nicht mehr und nicht weniger getrunken als wir alle. Einen Martini zum Lunch, vielleicht auch zwei, wenn es einen Anlaß gab. Cocktails vor dem Essen – na, Sie kennen das ja.
Ich muß allerdings sagen, daß er in meinen zwei letzten Monaten bei der Zeitschrift ein kleines Tief zu haben schien. Das passiert uns allen mal, ich hab mir wirklich nichts weiter dabei gedacht. Hat er damals mehr getrunken? Ich kann mich nicht erinnern. Aber ich weiß, ich dachte, Stein hätte ihn vielleicht ein bißchen ins Schleudern gebracht. Stein war direkt von der Columbia Universität zu uns gekommen, ein Senkrechtstarter. Schwer auf Draht. Er war gerade mal zwei Monate bei uns und machte Harrold schon ernsthafte Konkurrenz. Er erwischte ihn allerdings auch mitten in seinem Tief, und das machte es natürlich noch schlimmer. Aber ich wußte, daß Harrold das überwinden würde. Bei ihm zu Hause war gerade ein Kind angekommen. Ich konnte mich noch genau erinnern, wie das war – die ganze Nacht wach und am Tag ewig schlapp. Ich sagte mir, er würde ein paar Monate lang mit halber Kraft arbeiten und dann wieder Vollgas geben. Und dann bin ich gegangen und hab das alles ad acta gelegt.
Bis ich hörte, was da passiert war. Erschütternd. Wirklich.
Aber es ist eine Wahnsinnsgeschichte. Ich sag Ihnen was, ich weiß nicht, ob Sie sich das schon mal überlegt haben, aber daraus ließe sich vielleicht ein Buch machen. So was wie »Kaltblütig«. Kommt natürlich drauf an, was Sie an Material zusammenkriegen, was sich daraus machen läßt. Aber es gibt da ein paar interessante Aspekte: die Heimlichkeit, die Tatsache, daß ausgerechnet die beiden in so was hineingerieten. Erinnert mich ein bißchen an Scott und Zelda.
Ja, das ist eine Möglichkeit. Wissen Sie was – Sie schreiben Ihren Text, und wenn Sie fertig sind, schicken Sie ihn mir vor der Veröffentlichung. Ich seh ihn mir an und sag Ihnen, was ich davon halte.
Sie hatte da oben in Maine doch einen Liebhaber, nicht?
Für das Buch wäre so was wichtig. Solche Verwicklungen. Das macht die Geschichte spannender. Und es könnte für ihre Motive von Belang gewesen sein, meinen Sie nicht auch?
5. Dezember 1970 – 15. Januar 1971
Mary Amesbury
Ich hörte ein Geräusch. Ein gedämpftes Knirschen von Kies unter Autoreifen. Ein PKW oder Lastwagen kam langsam, so leise wie möglich, die kleine Straße heruntergekrochen – verschlafen im Morgengrauen. Ich schlug die Bettdecke zurück und ging ans Fenster. Ich nahm meine Wolljacke vom Sessel und zog sie über. Die Dielen unter meinen Füßen waren kalt. Draußen war alles grau, es war jene halbe Stunde beginnenden Lichts vor Sonnenaufgang. Ich sah zu, wie der schwarze Pick-up auf dem Sand zu dem Ruderboot zuckelte. Ein Mann stieg aus. Der Mann von gestern, auch wenn ich im Grau nur seinen gelben Ölmantel deutlich erkennen konnte, seine Gesichtszüge blieben unbestimmt. Das Wasser in der Bucht war ruhig und glatt, und als er zu seinem Kutter hinausruderte, ließ er ein völlig gleichmäßig gekräuseltes Kielwasser hinter sich zurück.
Das Brummen des Motors klang wie grummelnder Protest über die allzu frühe Störung. Ich sah das Gelb des Ölmantels am Bug aufblitzen, im Ruderhaus, dann hier und dort auf dem Boot, das in elegantem Bogen hinausfuhr, der Sonne entgegen.
Ich setzte mich auf die Bettkante und sah dem Boot nach, bis es verschwunden war. Ich fragte mich, wohin er wollte, wie er seinen Weg fand, was ihn am Ziel erwarten würde – graues Licht, in dem bunte Bojen auf dem Wasser schaukelten?
Ich wußte nicht, wie spät es war, aber es mußte noch früh sein, höchstens halb sieben, schätzte ich. Wenn man um halb sieben auf dem Wasser sein wollte, sagte ich mir, mußte man um halb sechs aufstehen – bei Dunkelheit, während Frau und Kinder noch schliefen. Und jetzt hatten wir Dezember, den Monat mit den längsten Nächten. Wie sah der Tageslauf eines Hummerfischers im Sommer aus, wenn der Tag um vier oder noch früher anbrach? Aß der Fischer dann schon am Spätnachmittag zu Abend und ging vor seinen Kindern zu Bett?
Ich betastete mit einem Finger meine Lippe: Sie war immer noch geschwollen und empfindlich. Und ich dachte an die anderen Stellen an meinem Körper, die ich nicht berühren wollte. Irgendwas war mit meinem Knie. Ich wußte nicht genau, was, aber es schmerzte unter der Kniescheibe, als hätte ich es mir bei einem Sturz verdreht. Der Hausputz am Abend, das viele Bücken und
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