Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
bewegte sich dort ein Mann im Rhythmus mit dem Boot – die Wahrnehmung war so täuschend, daß ich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.
Ich war mit meinen Gedanken bei dem Mann, den Willis Jack genannt hatte, und seiner Frau, Rebecca, die schwermütig geworden war, als ich aus Gewohnheit Caroline meinen kleinen Finger in den Mund schob, um sie daran saugen zu lassen. Ich tat das häufig, weil sie das zu beruhigen schien, aber diesmal saugte sie nicht, sondern biß sofort zu, und ich spürte überrascht die scharfe kleine Kante, die oben in meinen Finger schnitt. Das also war der Grund ihres Unbehagens und ihrer Quengeligkeit: Sie hatte einen neuen Zahn bekommen, oben diesmal. Ich fühlte nur das spitze kleine Zähnchen, das gerade das Zahnfleisch durchstoßen hatte. Sehen konnte ich in der Dunkelheit nichts. Sie sah zu mir hinauf und lächelte. Sie schien beinahe so erleichtert wie ich, daß das Rätsel endlich gelöst war. Da fiel mir ein, daß ich kein Kinderaspirin bei mir hatte. Was wohl die Frauen von St. Hilaire benützen, wenn ihre Kinder zahnten – einen Tropfen Whisky auf das Zahnfleisch, eine harte Brotrinde zum Kauen oder das prosaische Kinderaspirin, zu dem ich gegriffen hätte, wenn ich daran gedacht hätte, welches zu besorgen?
Ich hörte Motorengeräusch auf der Straße und drehte mich um, aber es war so schnell dunkel geworden, daß ich nicht einmal mehr das Häuschen sehen konnte, nur schwankende Lichter, als ein Fahrzeug die Schotterstraße zum Strand hinunterrumpelte. Das ist vielleicht Willis, dachte ich, der Gesellschaft sucht, vielleicht noch einmal sein Glück versuchen will, weil er glaubt, nach einem langen Tag ganz allein mit dem Kind könnte ich weich geworden sein. Doch die Scheinwerfer schoben sich weiter den Strand entlang, und ich bekam plötzlich eine unerklärliche Angst, so als hätte ich unbefugt fremdes Terrain betreten und müßte fürchten, jeden Moment entdeckt und gescholten zu werden. Ich stand am Ende der Landzunge, auf der Südseite. Der Wagen kroch an ihrer Nordkante entlang. Ich war sicher, daß die Scheinwerfer mich gleich erfassen würden, doch kurz bevor es soweit war, hielt der Wagen an. Der Fahrer ließ die Scheinwerfer brennen und stieg aus. Er hatte immer noch seinen gelben Ölmantel an. Er war sofort erkennbar. Ich blieb reglos hinter einem kleinen Sandhügel stehen. Ich schob Caroline den Finger in den Mund, damit sie nicht weinte, aber es war gar nicht nötig, sie war endlich eingeschlafen.
Der Mann namens Jack ging über den Sand zu seinem Ruderboot. Er beugte sich hinunter, um einen Metallkasten, einem Werkzeugkasten ähnlich, herauszunehmen, aber als er sich aufrichtete, schien er zu zögern. Er stellte den Kasten auf den Rand des Boots und senkte den Kopf, als wollte er einen Moment nachdenken. Dann stellte er den Kasten wieder ins Boot hinein, ging zum Wagen zurück und schaltete die Scheinwerfer aus. Ich war verwundert. Ich konnte ihn jetzt kaum noch erkennen – nur einen Abglanz von Gelb, der sich über den Sand wieder zum Ruderboot bewegte. Der Mann stieg hinein und setzte sich. Er rührte sich nicht.
Ich hätte umkehren und den Kiesstrand entlang zum Haus zurückgehen können. Er hätte mich gehört, aber da ich im Begriff gewesen wäre, mich von ihm zu entfernen, hätte kein Anlaß bestanden, mich anzusprechen oder etwas zu sagen. Ja, das hätte ich tun können. Aber ich tat es nicht.
Die Arme um mein Kind geschlossen, blieb ich am Rand der Landspitze stehen. Ich beobachtete den Mann im Ruderboot – nichts weiter als ein gelber Schimmer vor schwarzem Sand und schwarzem Wasser. Das bißchen Licht, das noch vorhanden war, schuf täuschende Eindrücke. Schon war es nicht mehr möglich zu sagen, wo Wasser und Land zusammenstießen, und ich war mir nicht mehr sicher, wo genau der Wagen geparkt war. Der Mann zündete eine Zigarette an. Ich sah das plötzliche Aufflammen des Streichholzes, die rote Glut.
Vielleicht fünf Minuten vergingen. Ich stand hinter meinem Sandhügel, er saß in seinem Boot. Ich weiß nicht, was mir in diesen Momenten durch den Kopf ging. Ich beobachtete nur, versuchte, nicht zu denken. Ich faßte nicht bewußt den Entschluß, ihn anzusprechen. Ich hatte keinen Anlaß, ihn anzusprechen, abgesehen vielleicht von einem gewissen neugierigen Interesse daran, was das für ein Leben war, mit Frau und Kindern und tagaus, tagein auf dem Boot. Möglich auch, daß ich nur das Gefühl verbotenen Eindringens loswerden wollte, daß es
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