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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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genügte ihr nicht, in meinen Armen zu liegen und gewiegt zu werden, immer wieder versuchte sie, ihr Fäustchen in ihren Mund zu schieben. Ich war sicher, sie sei doch hungrig, aber jeder Versuch, sie zu stillen, endete in Tränen und zornigem Geschrei. Schließlich legte ich sie an meine Schulter und ging mit ihr hin und her. Solange ich mich bewegte, war sie ruhig. Sobald ich mich setzte und versuchte, die Bewegung des Gehens nachzuahmen, indem ich sie schaukelte, begann sie von neuem zu schreien, als hätte sie die List durchschaut. Was ist denn so besonderes am Hin- und Hergehen? dachte ich. Ich fand es hauptsächlich ermüdend. Ich ging im Kreis durch die Küche, das Wohnzimmer, das untere Schlafzimmer, immer wieder, bis ich dachte, ich würde umfallen oder von dem ewigen Einerlei aus der Haut fahren. Ich war überzeugt, sie würde an meiner Schulter einschlafen, aber solange ich umherging, blieb sie hellwach. Und wenn ich auch nur eine Minute Pause machte, begann sie wieder zu schreien. Was ist das für ein Schmerz, dachte ich, der sie plagt, wenn ich mich setze, und nachläßt, wenn ich herumlaufe?
    Mindestens eine Stunde, vielleicht auch zwei, marschierte ich im Haus auf und ab. Dann fiel mir das Tragetuch ein. Ich ließ ihren Zorn über mich ergehen, während ich sie und mich warm einpackte und sie dann nicht ohne Mühe in das Tuch hineinbugsierte. Ein kleiner Tapetenwechsel, dachte ich, wird mir sicher guttun, und sie wird an der frischen Luft vielleicht endlich einschlafen.
    Die Luft brannte vor Kälte. Ich zog ihr meinen Mantel vor das Gesicht. In dem Tragetuch ruhte ihr Gewicht mehr auf meiner Hüfte als in meinen Armen, und ich war so froh, draußen zu sein, daß mir die Kälte nichts ausmachte. Die würzige Luft war schneidend, aber nicht mehr so bitterkalt wie am Tag zuvor – vielleicht wirkte auch die Feuchtigkeit vom Meer mildernd, ich weiß es nicht. Ich ging den Hang hinunter zum Kiesstrand. Obwohl meine Stiefel nur relativ flache Lederabsätze hatten, eigneten sie sich nicht zu einem Spaziergang auf diesem steinigen Boden, und das Vorankommen war mühsam. Ich nahm mir sofort vor, besonders vorsichtig zu sein, einen Sturz oder einen verstauchten Fuß konnte ich mir nicht leisten. Ganz abgesehen davon, daß Caroline bei einem Sturz wahrscheinlich verletzt werden würde, ängstigte mich die völlige Abgeschnittenheit hier draußen auf der Landzunge. Hier würde bestimmt kein Mensch meine Hilferufe hören. Das nächste Haus, ein blaues Fischerhaus oben an der Hauptstraße, war viel zu weit weg, und meine Stimme würde im Rauschen der Brandung und des Windes untergehen oder ungehört an Fenstern und Türen des Hauses, die an einem so kalten Abend zweifellos fest geschlossen waren, abprallen.
    Die Dunkelheit kam jetzt schnell, sie schien in Nebeln aus dem grauen Wasser aufzusteigen. Schon konnte ich den Horizont nicht mehr erkennen – nur noch das Lichtsignal des Leuchtturms, das in regelmäßigen Abständen aufblitzte. Tang lag auf den Steinen, ein paar alte verwitterte Holzbretter – Treibholz – leere Krebsschalen, Bruchstücke bläulich schimmernder Muschelschalen. Als ich am Fischhaus vorüberkam, nahm ich noch den Nachgeruch eines erloschenen Feuers wahr. Das Fischhaus interessierte mich. Ich ging hinüber und schaute durch eines der Fenster hinein, konnte aber in der Düsternis nicht viel erkennen: zwei oder drei Gartenstühle aus Aluminium und Kunststoff, in einer Ecke einen Stapel Gitterkörbe, in denen die Hummer gefangen wurden, eine niedrige Holzbank an der Wand, eine kleine offene Feuerstelle. Ich dachte an die Männer, die bei Tag hier zusammen saßen, versuchte, mir ihre Stimmen vorzustellen, wenn sie sich in dieser muffigen Wärme beim Körbeflicken unterhielten. Ich fragte mich, was sie miteinander sprachen.
    Ich ging über den grasbewachsenen Kamm zum Sandstrand auf der anderen Seite. Hier, auf dem harten Sand ging es sich bequemer als auf den unsicheren Steinen. Flüchtig dachte ich an die Honigpötte, vor denen Willis mich gewarnt hatte, aber so recht mochte ich nicht an sie glauben. Aber ganz gleich, sagte ich mir, wenn ich mich dicht an der Hochwasserlinie hielt, konnte mir nichts passieren.
    Als ich die Spitze der Landzunge erreichte, hatte das grün-weiße Hummerboot alle Farbe verloren. Nur schwache Konturen waren geblieben und der Eindruck einer leichten Schaukelbewegung. Gelbes Ölzeug, das an einem Haken am Ruderhaus hing, fing das letzte Licht auf. Es sah aus, als

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