Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
sie mit einer Ausfahrt, einem Spaziergang oder einem Nickerchen auszufüllen. Aber mir war klar, daß das Gesten des Trotzes waren, Gefechte gegen die Leere.
In der zweiten Woche fand ich schließlich in einen Rhythmus, der mir entsprach und nicht im Gegensatz zu meiner Umwelt zu stehen schien. Ich kaufte mir Wolle und begann zu stricken, einen Pullover für mich und einen für Caroline. Morgens, wenn die Kleine schlief, strickte ich. Meine Mutter hatte es mir beigebracht, als ich noch ein Kind gewesen war, aber seit meinem Umzug nach New York hatte ich keine Stricknadel mehr in die Hand genommen. Für mich war es eine Verbindung zu ihr, etwas, das sie mir geschenkt hatte und das ich jetzt an meine Tochter weitergeben konnte. Hinzu kam, daß ich gern mit den Händen arbeitete.
Ich rief meine Mutter einmal in der Woche an, immer samstags, vom Supermarkt in Machias aus. Wir hatten diese Gewohnheit schon lange, und ich wußte, es würde sie beunruhigen, nichts von mir zu hören. Ich sagte ihr nichts davon, wo ich war oder was geschehen war. Ich tat so, als wäre alles in bester Ordnung.
Willis kam fast jeden Tag unter diesem oder jenem Vorwand vorbei. Manchmal brachte er Fisch mit, manchmal wollte er sich in der Küche ein bißchen aufwärmen. Einmal hatte er eine kleine Holzfigur für Caroline geschnitzt. Immer, wenn er kam, setzte er sich an den Küchentisch. Dann sah er mir ins Gesicht. Die Verletzungen verheilten langsam, das wußte ich, und wirkten nicht mehr so erschreckend wie bei meiner Ankunft. Aber wenn er mich so musterte, sah ich immer weg.
Ich ließ ihn fast immer herein, im Grunde nur aus Höflichkeit, und er blieb selten lange. Ich glaube, er sah mich ein bißchen als seinen Besitz. Er fragte nie wieder, ob ich nicht ein bißchen »kuscheln« wollte, wie er es an jenem Tag formuliert hatte, dennoch schien immer die Frage im Raum zu hängen, ob es ihm nicht doch gelingen würde, mich umzustimmen, wenn er nur hartnäckig genug war.
Sie werden sich vielleicht wundern, wieso ich diese Besuche hinnahm. Manchmal stelle ich mir diese Frage auch. Ich glaube, ich wollte Willis nicht gegen mich aufbringen – so wenig wie sonst jemanden im Dorf übrigens. Und ich wollte nicht mehr Aufmerksamkeit erregen, als unbedingt nötig. Wahrscheinlich hoffte ich, Willis würde seiner vergeblichen Bemühungen einfach müde werden und nicht mehr kommen.
Wenn Willis gegangen war, stillte ich Caroline und machte mir dann etwas zum Mittagessen. Im allgemeinen hatte ich die Hausarbeit bis zum Mittag erledigt. Danach pflegte ich irgend etwas mit Caroline zu unternehmen. Wenn das Wetter einigermaßen erträglich war, steckte ich sie in das Tragetuch und ging mit ihr bis zum Ende der Landzunge und wieder zurück oder an der Felsküste entlang ein Stück nach Süden. Auf einem meiner Ausflüge nach Machias hatte ich mir ein paar Turnschuhe gekauft, in denen es sich auf dem Kies bequemer ging. Manchmal sammelte ich irgend etwas: den einen Tag glatte blaugraue Kiesel, den nächsten reinweiße Muscheln. Auf den Fensterbrettern im Haus sammelten sich Gläser und Becher mit Steinen und Muscheln.
Nach dem Spaziergang pflegte ich Caroline in der Tragetasche ins Auto zu setzen, und dann fuhren wir nach St. Hilaire hinein. Ich kaufte jeden Tag dort ein, besorgte mir am frühen Nachmittag, was ich zum Abendessen brauchte. Ich lernte, mit dem grimmigen Glasauge zurechtzukommen, mit dem Geplauder und den Fragen – nach einiger Zeit freute ich mich sogar darauf, es war für mich eine Verbindung zur Außenwelt.
Ich ging regelmäßig in die Bibliothek, die zweimal in der Woche geöffnet war. Ich hatte endlich doch zu lesen begonnen, und nun, da ich angefangen hatte, bekam ich Appetit auf mehr. Ich las abends, bis tief in die Nacht hinein, manchmal verschlang ich ein ganzes Buch an einem Tag. Soviel Zeit, schien mir, hatte ich nie zuvor gehabt, und die Bücher waren ein wiederentdeckter Luxus.
Die Bibliothek war im Vergleich zu anderen vermutlich schlecht bestückt – sie hatte kaum Neues zu bieten –, aber die Klassiker waren da. Ich las Hardy, Jack London, Dikkens, Virginia Woolf und Willa Cather.
Ich freute mich jedesmal auf den Besuch in dem kleinen Steinhaus. Die Bibliothekarin, eine Mrs. Jewett, wollte mir auf meine Anfrage zunächst keine Bibliothekskarte ausstellen, da ich nur zur Miete hier wohnte. Erst nach vielen Bitten und gutem Zureden von mir gab sie nach. Wenn ich heute daran denke, finde ich ihren Widerwillen absurd, ich
Weitere Kostenlose Bücher