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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mir widerstrebte, mich klammheimlich davonzuschleichen. Wie dem auch sei, ich stieg den Hügel hinauf zur Nordseite des Kaps, ging auf ihn zu und sagte im Näherkommen so beiläufig wie möglich – als wäre es heller Mittag mitten im Sommer und ich machte mit meiner Tochter einen Strandspaziergang – »Hallo!«
    Ich hatte ihn erschreckt, das sah ich. Er war mit seinen Gedanken weit weg gewesen, oder es überraschte ihn, hier draußen einen anderen Menschen zu sehen. Wahrscheinlich war er es gewöhnt, dieses Fleckchen ganz für sich allein zu haben, und hatte vergessen, daß das Haus oben seit kurzem bewohnt war.
    Er stand auf, stieg aus dem Boot und sah mich an. Ich sagte noch einmal »Hallo«, wahrscheinlich antwortete er mir oder nickte.
    Ich ging näher zu ihm hin. Jetzt, da ich ihn in seiner Ruhe gestört hatte, mußte ich mich ihm zeigen – wenn ich auch in Schal und Mantel für ihn sicher nicht mehr war als ein dunkler Schemen.
    Mein erster Eindruck von ihm ist noch heute klar und deutlich, nicht vermischt mit späteren Bildern. Er hatte ein kantiges Gesicht, und mir fiel auf, daß er größer war, als ich angenommen hatte. Zwei tiefe Linien zogen sich von seiner Nase zu seinem Kinn, aber sie waren meiner Meinung nach nicht altersbedingt, obwohl er in den Vierzigern zu sein schien. Die Witterung hatte sie eingeprägt – sein Gesicht war vom Wetter gegerbt. Das sah man selbst in der Dunkelheit: die rauhe Haut, die Fältchen um die Augen. Sein Haar war mittellang und lockig. Die wahre Farbe konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen, aber ich wußte ja schon, daß es den Ton trockenen Sandes hatte. Unter seinem Ölmantel hatte er einen naturfarbenen irischen Pullover an. Am Kragen, etwa in Höhe seines Schlüsselbeins, waren ein paar Maschen aufgegangen und hatten ein kleines Loch hinterlassen. Er warf seine Zigarette weg.
    »Sie sind mit einem Baby hier draußen«, sagte er. Seine Stimme war tief, er sprach langsam, zögernd, aber es lag keine Überraschung in seinem Ton. Ich hörte einen Anklang des hiesigen Dialekts, er äußerte sich in der Satzmelodie und in den Vokalen. Aber er sprach mehr wie Julia Strout, seine Cousine, als wie Willis Beale.
    Ich sah zu Caroline hinunter.
    »Ja, sie zahnt – ich hab’s eben erst gemerkt –, und ich wollte sie beruhigen, deswegen bin ich hier draußen ein bißchen mit ihr spazierengegangen.«
    »Scheint funktioniert zu haben«, sagte er.
    »Ja.« Ich lächelte. »Ich habe das Haus da oben gemietet.«
    Ihm schien ein Licht aufzugehen. Er sah zum Haus hinauf.
    »Ich hab schon gehört, daß da jemand wohnt, und ich hab Ihren Wagen gesehen.«
    Wir machten uns nicht miteinander bekannt. Warum auch? Ich fand das damals nur logisch, wir glaubten ja beide, es würde bei dieser flüchtigen Begegnung bleiben.
    »Ich hab Sie schon öfter gesehen«, sagte ich. »Und Ihr Boot auch.«
    »Wenn das Wetter schlecht wird, bring ich es ins Dorf. Sonst laß ich es bis Mitte Januar hier draußen. Anfang Januar haben wir hier manchmal Tauwetter.«
    »Ach.«
    »Aber heute abend ist es kalt.«
    »Trotzdem waren Sie heute draußen.«
    »Ja. Nur gelohnt hat sich’s nicht.«
    »Willis Beale hatte mir gerade ein Paket Fisch gebracht, als wir Sie reinkommen sahen. Er meinte, es wäre verrückt von Ihnen, heute rauszufahren.«
    Er lachte kurz. »Willis«, sagte er in einem Ton, als sollte man nicht allzuviel auf Willis Beale geben. Aber das wußte ich ja schon.
    Er sah zum Wasser hinaus, etwa zu der Stelle, wo man sein Boot gesehen hätte, wenn es nicht schon stockdunkel gewesen wäre, und ich betrachtete ihn im Profil. Ein tiefgezeichnetes Gesicht, dachte ich, das weiß ich noch, sei es von den Elementen oder von etwas anderem. Was war nur das Faszinierende daran? Die Augen – sie waren alt oder vielleicht auch bloß müde. Und dennoch fühlte ich mich von diesem Gesicht angezogen, der Ruhe, die von ihm ausging, jedenfalls hielt ich es im trüben Licht für Ruhe. Er war schlank und sehnig, und doch hatte man den Eindruck von Gewicht, so als stünde er fest und sicher auf dem harten Sand. Und einen Eindruck von stiller Gelassenheit. Ja, das war es, was ich spürte, wenn ich ihn ansah, wenn er sich bewegte, ein Gefühl stiller Gelassenheit.
    Ein plötzlicher Windstoß blies ihm das Haar in die Stirn.
    »Ich muß sie zu Bett bringen«, sagte ich und schützte Carolines Kopf mit meinen Armen.
    »Ja, es ist spät«, meinte er.
    Er bückte sich, um den Werkzeugkasten aus dem Boot zu nehmen. Ich

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