Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
lebe gern allein«, erklärte sie, »obwohl das Haus natürlich viel zu groß ist für eine Person. Das Cottage ist gerade richtig.«
»Ja, es ist sehr angenehm«, sagte ich.
»Die meisten Zimmer hier im Haus habe ich abgeschlossen. Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, mit einem anderen Menschen unter einem Dach zu leben. Das kommt davon, wenn man so lange allein lebt.«
Ich hörte die versteckte Botschaft – daß ich vor dem Alleinleben keine Angst zu haben brauche.
Caroline hockte in einer Ecke und krähte, fasziniert von den schmalen, mit Schnitzereien verzierten Beinen eines hohen Holzstuhls, den sie dort entdeckt hatte.
»Sie sind auf der Flucht, stimmt’s?« sagte Julia plötzlich ganz direkt. »Sie sind geflohen.«
Zuerst sagte ich gar nichts.
»Sie brauchen es mir nicht zu erzählen«, meinte sie. »Es geht mich nichts an.«
»Ich hatte keine andere Wahl«, sagte ich schließlich.
Sie sah eine Zeitlang auf ihre übereinandergeschlagenen Beine hinunter. Sie trug schwere Stiefel, die bis über die Knöchel reichten.
»Es tut nicht gut, die ganze Zeit mit einem Kind allein zu sein«, sagte sie. »Ich kann sie Ihnen jederzeit mal ein paar Stunden abnehmen, wenn Sie eine Pause brauchen.«
»Vielen Dank«, erwiderte ich, »aber das könnte ich nicht …«
»Überlegen Sie sich’s.«
»In Ordnung.«
Es wurde still in der Küche. Caroline, der es gelungen war, sich auf alle viere zu erheben, verlor das Gleichgewicht und schlug sich den Kopf am Stuhlbein an. Ich ging zu ihr und nahm sie hoch. Ich hatte meinen Tee sowieso fast ausgetrunken und sagte, ich müsse jetzt nach Hause. Julia schien mich nicht gern gehen zu lassen, vielleicht, dachte ich, fühlte auch sie sich manchmal einsam.
Sie brachte mich zur Tür.
»Kommen Sie wieder mal auf eine Tasse Tee«, sagte sie.
Ich dankte ihr und versprach es. Sie wartete, während ich Caroline in ihren Schneeanzug packte und mir den Schal um den Kopf wickelte.
»Hier findet er Sie bestimmt nicht«, sagte sie.
Ich fuhr an dem Tag nicht direkt ins Haus zurück, sondern nach Machias. Ich wollte mir noch etwas besorgen. Ich ging in den Resteladen und kaufte mir ein Nachthemd – ein langes Flanellnachthemd mit Streublumenmuster, das mich in meinem einsamen Bett warmhalten sollte, ein völlig unerotisches Ding, dessen Stoff vielleicht mit der Zeit schlabberig und fadenscheinig werden würde.
Ein Nachthemd, das Harrold nicht gefallen hätte.
Mitte Dezember, ungefähr zehn Tage vor Weihnachten, ging es vorn auf der Landspitze ungewohnt lebhaft zu. Drei der vier Boote, die im Kanal lagen, wurden für den Winter aus dem Wasser geholt und auf Schlitten gezogen. Die Männer, mehr als ich bisher auf dem Kap versammelt gesehen hatte, arbeiteten mit Bootsanhängern, Winden und Flaschenzügen. Eines der Boote war die Jeannine , das Boot, das Willis gehörte, und er kam demonstrativ zweimal zu mir ins Haus hinauf, einmal zu einer Tasse Kaffee und einmal, nachdem das Boot sicher an Land war, um ein Bier bei mir zu trinken. Es war, als wollte er den Männern draußen vormachen, wir wären alte Freunde, das Cottage beinahe sein zweites Zuhause. Es hätte mich interessiert, ob die anderen Männer Willis nach mir ausfragten, und was er ihnen in einem solchen Fall erzählte. Würde er sich bei seinen Auskünften auf das Wenige beschränken, was er wußte, oder würde er es für nötig halten, die wenigen Tatsachen auszuschmücken, um mich mysteriöser oder faszinierender erscheinen zu lassen?
Das grün-weiße Hummerboot wurde an diesem Tag nicht aus dem Wasser geholt, es lag nicht einmal im Kanal. Es war schon bei Tagesanbruch hinausgefahren wie immer und kehrte erst kurz vor Einbruch der Dunkelheit zurück, als alle anderen Boote an Land waren und die Männer zum Abendessen nach Hause gefahren waren.
Am Tag darauf unternahm ich mit Caroline eine meiner Einkaufsfahrten. Ich hatte kaum noch Kaffee und Geschirrspülmittel, und der Babybrei, mit dem ich Caroline seit einiger Zeit fütterte, ging auch zur Neige. Ich wollte nur kurz ins Dorf fahren und die Sachen bei Everett Shedd besorgen. Es war ein grauer Tag, kalt und trüb, Schnee lag in der Luft. Ich wollte früh genug losfahren, um vor der Dunkelheit und dem vielleicht aufziehenden schlechten Wetter zurück zu sein. Nachdem ich Caroline in ihrer Tragetasche auf dem Rücksitz untergebracht hatte, fuhr ich los, aber schon auf der gekiesten Auffahrt hinunter merkte ich, daß etwas nicht stimmte. Der Wagen zog stark
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