Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)
ermattet.
Er drehte sich herum und ging hinaus. Ich hörte seine Schritte auf der Treppe. Ich war von seinem plötzlichen Gehen beinahe ebenso überrascht wie zuvor von seinem Kommen.
Mein Körper warf einen langen Schatten an die gegenüberliegende Wand. Ich kniete noch immer wie erstarrt aufrecht im Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen. Unter mir konnte ich das Kratzen eines Stuhls auf dem Linoleumboden hören. Er hatte sich an den Tisch gesetzt. Ich hatte ein Bild von mir, wie ich aus dem Dachfenster kletterte, eine Regenrinne hinunterrutschte, durch das Fenster in Carolines Zimmer einstieg, sie aus dem Bett riß, in den Wagen sprang, davonfuhr. Aber ich wußte nicht einmal, ob es eine Regenrinne gab. Ich hatte Carolines Fenster verriegelt, damit sie keine Zugluft bekam. Mein Mantel hing am Haken an der Küchentür, meine Schlüssel lagen auf dem Küchentisch.
Ich blickte an meinem nackten Körper hinunter. Wie spät war es? Halb drei? Drei?
Hastig kleidete ich mich an. Mehrere Schichten übereinander: Ein langärmeliges T-Shirt, eine Bluse, einen Pulli und darüber meine Strickjacke. Ich fühlte mich geschützt unter dieser dicken Schale. Ich zog Jeans an und meine Stiefel.
Als ich hinunterkam, hing er halb liegend auf einem Stuhl am Tisch, den Kopf nach rückwärts gebogen, so daß er an der obersten Querleiste ruhte. Seine Augen waren geschlossen, und ich glaubte einen Moment lang, er wäre eingeschlafen. Aber als er meine Schritte hörte, richtete er sich auf und sah mich an.
»Ich bin durchgefahren«, sagte er. Seine Stimme war leise, rauh, wie ausgedörrt, und sie klang so monoton wie die eines Roboters, oder als bemühte er sich mit aller Macht, seine Emotionen zu zügeln. »Ich hab seit zwei Tagen nicht geschlafen«, fügte er hinzu. »Ich brauch dringend einen Kaffee.«
Ich ging zum Herd.
Ich füllte die Kaffeemaschine mit Wasser, gab Kaffee dazu. Ich wußte, daß er mich dabei beobachtete, aber ich sah ihn nicht an. Er hatte getrunken – das hatte ich gemerkt, als ich seine Augen gesehen hatte, und ich hatte es gerochen, als ich an ihm vorbeigegangen war –, und ich hatte Angst, ihn anzusehen, etwas zu sagen oder zu tun, was ihn womöglich provoziert hätte.
»Ich tu dir nichts«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ich will nur mit dir reden.«
»Reden?«
Ich stellte die Kaffeemaschine auf den Herd und drehte das Gas an. Mit verschränkten Armen blieb ich dort stehen und starrte in die Flamme. Gleich links war die Tür zu Carolines Zimmer. Ich glaubte zu hören, wie sie sich im Schlaf herumdrehte und der Plastikschutz der Matratze unter dem Laken knisterte.
»Wie geht es ihr?« fragte er. »Hat sie noch Fieber? Ist die Mittelohrentzündung besser?«
Wie hatte es funktioniert? Hatte der Kinderarzt Harrold angerufen? Hatte Harrold dann den Privatdetektiv angerufen, mit dem er manchmal zusammenarbeitete? War dieser dann hier heraufgefahren und hatte mit dem Arzt in Machias gesprochen? Der Arzt hatte Jack gekannt, hatte er dem Detektiv Jacks Adresse gegeben?
Nein, Jack hätte niemals etwas gesagt, das wußte ich. Und Everett auch nicht. Jemand anders hatte mich verraten. Aber wer?
»Wie hast du es erfahren?« fragte ich.
»Deine Mutter hat übrigens angerufen, weißt du das?« bemerkte er, nicht auf meine Frage eingehend. »Als du am ersten Weihnachtsfeiertag mit ihr gesprochen hast, warst du anscheinend so daneben, daß sie zurückgerufen hat, um noch einmal mit dir zu sprechen, und da mußte ich ihr natürlich sagen, daß du abgehauen warst.«
Ich schloß die Augen. Ich dachte an meine Mutter, was für Sorgen sie sich gemacht haben mußte. Und mir wurde mit einer gewissen Verblüffung bewußt, daß ich seit Weihnachten nicht mehr mit ihr gesprochen hatte.
»Aber auf deine Spur gebracht hat mich jemand aus der Praxis von Carolines Kinderarzt. Ich hatte eine Arzthelferin dort gebeten, mich anzurufen, falls man von dir hören sollte, und das hat sie auch brav getan. Sie hat am Montag morgen angerufen. Daraufhin hab ich mich sofort mit Collin in Verbindung gesetzt – du erinnerst dich an ihn? –, und er ist noch in derselben Nacht hier heraufgefahren und hat dich, wie es scheint, am nächsten Tag aufgestöbert. Nur einen Tag hat er gebraucht. Ich habe es auch nicht anders erwartet. Irgendein Kerl aus dem Dorf – William, Willard oder so ähnlich – hat ihm erzählt, daß vor kurzem eine Fremde in diesem Haus hier eingezogen sei. Da brauchte Collin natürlich nur noch
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