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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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dann eß ich das.«
    Er zog das Zellophan von der Schüssel und stellte sie auf die Arbeitsplatte. Er bewegte sich langsam und bedacht, als müßte er jeden Handgriff vorher überlegen. Er schien völlig fertig zu sein. Er machte einen Schrank über der Spüle auf und holte einen kleinen Teller heraus. Er zog eine Schublade auf, um sich Besteck zu nehmen, aber in der Schublade lagen nur Topflappen.
    » Wo ist das Besteck?« fragte er.
    Ich wies auf eine Schublade weiter drüben, nicht weit von meinem Platz am Küchentisch entfernt. Er ging hinüber, zog sie auf, beugte sich über sie, schob eine Hand hinein, während er sich mit der anderen an der Arbeitsplatte abstützte. So stand er und kramte in der Schublade, als ich aufstand.
    »Es ist dir also recht«, sagte ich.
    »Was ist mir recht?«
    »Daß ich nicht mitkomme. Daß ich hier nicht weggehe.«
    Er blieb über die Schublade gebeugt. Ich hörte das Klappern des billigen Bestecks, während er nach einer Gabel suchte. Ich dachte – ja, was dachte ich eigentlich? –, jetzt ist der Moment zu sagen, was gesagt werden muß, alles.
    Ich hatte in diesem Augenblick keine Angst vor ihm. Vielleicht, weil er halb gebeugt vor mir stand, vielleicht weil die Suche nach der Gabel so etwas häuslich Alltägliches an sich hatte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu. Er sah müde aus, erschöpft. Ich habe ihn einmal geliebt, dachte ich. Wir haben zusammen ein Kind. Wir haben Caroline gezeugt, und sie ist ebensosehr sein Kind wie meins.
    Flüchtig und unerwartet sah ich vor mir das Bett in der New Yorker Wohnung, den Küchentisch dort.
    Ich hob die Hand, um seinen Rücken zu berühren, und zog sie wieder zurück. Ich stellte mir vor, wir würden uns einfach scheiden lassen wie andere Leute auch, er würde Caroline regelmäßig besuchen dürfen, und dann wäre alles in Ordnung. Das würde er doch einsehen.
    »Ich bin sicher, wir können gemeinsam eine Lösung finden«, sagte ich, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, als ich mit ihm sprach.
    Der blitzartige Angriff überraschte mich. Ich sah nicht einmal die Bewegung seiner Hand, ich spürte nur den Luftzug, fast wie einen elektrischen Schlag, dann den brennenden Schmerz in meinem Gesicht. Er hielt einen metallisch glänzenden Gegenstand in der Hand. Eine Gabel. Ich hob meine Hand zu meinem Gesicht und sah sie an. Ich hatte Blut an den Fingern. Die Zinken der Gabel hatten mich genau unterhalb des Auges getroffen. Ich konnte von Glück sagen, daß er nicht das Auge selbst erwischt hatte.
    Mit schneller Bewegung drehte ich mich herum, um ihm zu entkommen. Er packte mich bei den Haaren. Er riß mir den Kopf nach rückwärts, ich verlor das Gleichgewicht und stolperte, aber er hielt mich an den Haaren aufrecht. Er riß mich auf die Füße. Er drehte mein Haar um seine Faust, seine Stirn drückte seitlich an meinen Kopf. Die Gabelzinken bohrten sich in die Mulde am Ansatz meines Halses. Es ist ja nur eine Gabel, dachte ich. Was kann er mit einer Gabel schon anrichten?
    Aber ich wußte, daß er mich mit der Gabel töten konnte. Er konnte mich auch ohne Gabel töten.
    »Hast du dir wirklich eingebildet, du würdest damit durchkommen?« zischte er. »Hast du geglaubt, du könntest mich demütigen, mir Caroline wegnehmen, und ich würde mir das einfach gefallen lassen?«
    »Harrold, hör doch mal …«, begann ich.
    Er stieß mich ins Wohnzimmer. Ich taumelte gegen die Couch, fand mein Gleichgewicht wieder und setzte mich. Ich zog die Strickjacke fest über meiner Brust zusammen. Er hielt die Gabel in der Faust wie ein Kind. Er zog seinen Mantel aus und zog dabei die Gabel durch den Ärmel.
    »Zieh dich aus«, sagte er.
    »Harrold …«
    »Zieh dich aus«, wiederholte er. Seine Stimme war einen Ton lauter geworden.
    »Harrold, tu das nicht«, sagte ich. »Denk doch an Caroline.«
    »Scheiß auf Caroline«, versetzte er.
    Ich hatte ein Gefühl, als blähte sich die Luft um mich herum wie ein Segel, das sich mit Wind füllt, und fiele dann plötzlich über mir zusammen. Nichts, was Harrold bis zu diesem Moment je gesagt oder getan hatte, war von solcher Offenkundigkeit gewesen wie diese drei Wörter. Nie hätte ich es für möglich gehalten, daß ein Mensch fähig wäre, so etwas zu sagen, aber Harrold hatte es gesagt. In diesem Moment war mir klar, daß er nicht mehr zugänglich war, daß er während meiner Abwesenheit eine Grenze überschritten hatte.
    »Zieh dich aus!« brüllte er. Ich begann, mich auszuziehen, langsam, um Zeit zu gewinnen

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