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Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Gefesselt in Seide: Roman (German Edition)

Titel: Gefesselt in Seide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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so flott wieder hinausmarschieren, wie sie hereingekommen war, aber sie blieb plötzlich stehen und sah zu den Wagen hinaus, die beim Fischhaus standen. Ich spürte, daß sie drauf und dran war, noch etwas zu sagen, eben das, was sie mir von Anfang an hatte sagen wollen, weshalb sie überhaupt hergekommen war, aber ihre natürliche Zurückhaltung, ihr Taktgefühl schienen sie daran zu hindern.
    »Ich komm in den nächsten Tagen wieder vorbei, um nach Ihnen zu sehen«, sagte sie. »Oder Jack kommt.«
    »Ich liebe ihn«, sagte ich verwegen.
    Sie drehte sich herum. Im ersten Moment schien sie wie vom Donner gerührt, aber sicher nicht, weil sie die Wahrheit nicht geahnt hatte, sondern weil ich sie ausgesprochen hatte. Dann nickte sie bedächtig, wie zur Bestätigung ihrer eigenen Vermutungen.
    »Das hab ich mir fast gedacht«, sagte sie.
    Und sie sah mich an, als wäre ich eine Tochter, die zu schnell erwachsen geworden war, um noch behütet werden zu können, die jetzt der Hand der Mutter entglitten war.
    »Seien Sie nur vorsichtig«, sagte sie.
    Jack kam auch am nächsten Morgen nicht. Es war der Donnerstag, und ich dachte daran, daß er am Freitag sein Boot aus dem Wasser holen würde. Wir hatten höchstens noch einen Morgen. Ich blieb im Bett liegen und wartete, bis die Sonne aufging. Dann stand ich auf und ging hinunter ins Wohnzimmer ans Fenster. Ich schaute zu seinem Boot hinunter. Auf dem Weiß lag rosiges Licht.
    Am Nachmittag fuhr ich ins Dorf zum Einkaufen. Ich tat es beinahe jeden Tag, mehr aus Gewohnheit als aus Notwendigkeit.
    Als ich an diesem Nachmittag meinen Wagen auf der anderen Straßenseite abstellte, sah ich vor der Mobilzapfsäule einen schwarzen Pick-up. Ich kannte ihn gut, ich kannte jede einzelne Schramme, jeden einzelnen Rostfleck. Vorn auf dem Mitfahrersitz war eine Frau. Ich schaltete den Motor aus und sah sie mir an. Das graue Haar war streng aus dem Gesicht zurückgenommen. Sie trug ein blau gemustertes Halstuch aus irgendeinem seidenähnlichen Material. Man sah dem Gesicht mit den hohen Wangenknochen noch an, daß es einmal schön gewesen war, jetzt jedoch war es blaß und ausgezehrt. Die Lippen waren schmal, beinahe verkniffen. Sie trug einen marineblauen Wollmantel, und mir schien, obwohl ich das nicht sehen konnte, als hätte sie die Hände im Schoß gefaltet. Sie hatte wohl gespürt, daß jemand sie ansah, denn sie drehte langsam den Kopf in meine Richtung.
    Ich sah ihre Augen, und da kam mir eine Ahnung, womit Jack all die Jahre hatte leben müssen. Die Augen waren blaß, von einem milchigen Blau, aber vielleicht war das auch nur mein Eindruck, weil sie betrübt wirkten, wie verhangen. Und gleichzeitig hatten sie einen gehetzten Blick, den Blick eines gejagten Tieres. An den Winkeln waren sie zusammengekniffen. Man konnte, wenn man diese Augen betrachtete, nicht beschreiben, was sie sahen, aber man ahnte, daß es etwas Schreckliches war. Mein erster unmittelbarer Eindruck war, daß diese Frau einen schweren Verlust erlitten hatte, vielleicht durch Krankheit oder Unfall ihre Kinder verloren hatte, aber ich wußte, daß das nicht stimmte.
    Ich wandte mich ab. Ich wollte diese Augen nicht ansehen und ich wollte vermeiden, daß sie auf mich aufmerksam wurde. Als ich noch einmal hinsah, war ihr Blick starr geradeaus gerichtet. Sie schien zu warten.
    Ich sollte schnurstracks nach Hause fahren, dachte ich. Aber ich wußte, daß er im Laden war. Ich konnte diese Gelegenheit, ihn zu sehen, nicht vorbeigehen lassen, auch wenn ich nicht mit ihm würde sprechen können.
    Ich stieg aus und hob Caroline aus der Tragetasche. Ich ging hinten um den schwarzen Pick-up herum und die Treppe hinauf zum Laden. Die Glocke über mir bimmelte.
    Er stand mit seiner Tochter an der Theke. Sie trug keine Mütze, und ihr Haar fiel lockig ihren Rücken herab. Sie hatte eine rote Wolljacke an. Als sie sich herumdrehte, umzu sehen, wer hereingekommen war, folgte er ihrer Bewegung. Everett nickte mir zu und sagte hallo. Ich sah Jack an. Ich wußte nicht, ob er mich ansprechen, zu zeigen wagen würde, daß er mich kannte. Er warf einen Blick auf seine Tochter und sagte dann wie beiläufig: »Wie geht es der Kleinen?«
    »Besser, danke«, antwortete ich.
    Everett beobachtete uns.
    Jack sagte zu seiner Tochter: »Ich glaube, du hast Mary Amesbury noch nicht kennengelernt. Sie wohnt in Julias Haus drüben auf dem Kap.«
    Und zu mir: »Das ist meine Tochter Emily.«
    Ich sagte hallo, und sie erwiderte schüchtern meinen

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