Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Sylva
Vom Netzwerk:
unerschütterliche Kraft. Geh der Ruhe entgegen, liebe Seele, und zaudere nicht und frage nicht. Geh zur Ruh!
     

Reinheit
    Du wußtest nicht, als du das Erdenleben auf dich nahmst, Seele, wie dunkel es sein würde. Oder mußtest du es wohl? Hast du das schwere Leben erwählt, um den Brüdern zu dienen, oder, um rascher emporzuklimmen durch all das schwere dindurch? Denk, du habest selbst dein Los erwählt, dann trägst du es leichter. Dann drückt es nicht so sehr, und du hast den Eindruck, als würdest du größer, reifer, reiner durch alles, was du erduldet. Du hattest gemeint, die Reinheit sei dein Heil, da du nicht vergessen könnest, Seele, daß du eine Himmelgeborene, aber siehe, die Erde hat dich in ihrer Gewalt, und du durftest nicht reiner bleiben als die andern, die alle von Körpernot und Körperschwäche niedergezogen werden.
    Du wußtest doch, was Reinheit ist, oder wußtest du auch das nicht mehr? Mußtest du es begreifen lernen dadurch, daß du sie verloren?Oder waren deine Begriffe von der Reinheit überhaupt falsch? Zur Reinheit gehört Heldenkraft, das haben alle Zeiten verstanden, die sieghafte Engel gegen Drachen streiten ließen, und Helden von der Tafelrunde ihrer Reinheit halber unbesiegbar machten.
    Also haben alle Zeiten gewußt, daß Reinheit eine Kraft und eine Hoheit verleiht. Übrigens fühlen alle den Zauber der Unschuld in den jungen Kindern. Alle beugen sich vor dem zarten Wesen, das gut und böse noch nicht unterscheiden kann.
    Was ist denn Reinheit?
    Das ist wohl schwer zu beantworten, denn Reinheit kann ohne Unschuld bestehen, nicht aber Unschuld ohne Reinheit. Reinheit kann nicht erworben werden, sie ist wie ein Instinkt, etwas Angebornes, nicht zu Entäußerndes, oder doch zu Entäußerndes? Könnte sie erhalten bleiben, oder muß sie im Lebenskampfe immer untergehen? Worin besteht sie? Sie besteht nicht im Nichtwissen, aber vielleicht im Nichtwissen-Wollen? Sie besteht nicht in der Dunkelheit, da sie Licht ist. Auf der Erde sind aber so viele Dinge, welche der Reinheit widerstreben, und die sie gar nicht wissen noch berührenReinheit erscheint manchem kindlich und ist es noch nicht einmal so sehr. Denn sie ist alles überwältigend, da, wo sie auftritt. Es ist wahr, daß sie siegt, daß man sie nicht erdrücken kann, daß sie stärker ist als das Böse, das sie berühren will, um sie niederzuziehen zu sich. Denn es ist sonderbar, wie die Unreinen nicht vertragen können, daß einige rein bleiben und dadurch über sie erhaben, anstatt anzubeten und niederzuknien und zu bitten, auch zu der Höhe empor steigen zu dürfen.
    Wir sehen oftmals junge Menschen sterben, die zu rein sind, um vom Erdenschmutz berührt werden zu dürfen. Wir haben selbst das Gefühl, daß sie bewahrt worden sind, indem man sie hinweggenommen hat von allem, was ihnen ihre eigne Seele verdunkelt hätte. Diese waren der Erde nur geblieben, damit die Erde daran erinnert werden würde, wie rein sie sein sollte und könnte, wie das Paradies noch immer vorhanden ist und erreichbar bleibt, wenigstens für unsern Blick, wenn wir es auch nicht mehr betreten dürfen. Aber diese Wesen tragen das Paradies in sich, sie wissen es gar nicht einmal, sie ahnen nicht, daß sie Licht sind, und schön und erhaben. Manchmal werden sie vom Neidder andern verfolgt und können nicht begreifen, warum man ihnen so wehe tut. Die Bösen wollen sie nicht anerkennen, nickt dulden.
    Die Bösen? Wer sind die Bösen?
    Das sind die Unglücklichen, die vielleicht seit Aeonen zum Bösesein verurteilt sind, zur Strafe für irgend eine Tat der Vergangenheit, und die Böses tun müssen auf der Erde, auf der sie die Rolle der Teufel oder des Teufels spielen sollen, um das Gutsein der andern zu erschweren und verdienstvoller zu machen, was sonst gar kein Verdienst wäre, sie sollen in Versuchung führen, sie müssen weinend das Unrecht tun, das sie nicht bereut hatten und darum verurteilt sind, es wieder zu tun, oder noch Schlimmeres zu tun, und diese armen Seelen stehen da und zittern vor den Reinen, als wären das ihre Richter gewesen. Wer weiß, ob sie es nicht waren, und ob die also Verurteilten nicht empfinden, was wahr ist. Oder verurteilen wir uns selbst im sogenannten Jenseits. Müssen wir selbst unsere vergangenen Existenzen sehen und uns selbst zuerkennen, wohin wir gehören, nicht als Strafe, sondern als einfache Folge? In wie weit sind wir verantwortlich? Diese ewige große Frage wird immer und immer wieder erscheinenund von so vielen

Weitere Kostenlose Bücher