Gegen alle Zeit
für tot hielt und seine verbrannten Überreste in aller Eile auf dem Armenfriedhof von St. Andrew in Holborn beerdigt hatte, kam ihm mehr als gelegen. Es verschaffte ihm die nötige Zeit, seine nächsten Schritte zu überdenken. Denn er musste etwas unternehmen!
Blueskin hatte es einem bloßen Zufall zu verdanken, dass er lebend aus dem brennenden Haus in der Dirty Lane herausgekommen und dennoch für tot erklärt worden war. An jenem Mittwochmorgen, nach der absonderlichen Befreiung von Bess aus Wild’s House, hatte er ein paar Stunden in einem seiner Verstecke nahe der Drury Lane geschlafen. Er besaß viele solcher geheimen Unterschlüpfe, doch sie befanden sich allesamt im Kirchspiel von St. Giles-in-the-Fields, nicht nur, weil das berüchtigte Gaunerviertel den besten Schutz vor neugierigen Fragen und übertrieben fleißigen Konstablern bot, sondern auch, weil Blueskin in der Nähe seiner Schwester sein wollte. Zwar hatte er dafür gesorgt, dass Hope niemals allein in ihrem Häuschen war, doch er fühlte sich wohler in seiner Haut, wenn er im Notfall binnen kürzester Zeit bei ihr sein konnte. Auch wenn das nicht immer möglich war – was ihm stets ein schlechtes Gewissen bereitete.
An diesem Mittwoch war er kurz vor Mittag aus seinem Versteck gekrochen und auf der überfüllten Drury Lane nach Norden gegangen, um sich am Long Acre etwas Essbares zu besorgen. Er war noch beschwingt und bester Laune von ihrem nächtlichen Bravourstück in der Chick Lane. Mr. Wild musste vor Wut und Ärger schäumen, und das verschaffte Blueskin eine solche Befriedigung, dass er ganz gedankenverloren voranschritt und erst sehr spät bemerkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Drury Lane war dreckig und laut wie eh und je, aus den vielen Gin-Shops und Kneipen drang das Lärmen der morgendlichen Trinker, die Betteljungen und Huren hockten auf der Straße und lauerten den Passanten auf, Straßenhändler brüllten herum, als gälte es, die Kundschaft niederzuschreien. Und doch war etwas anders als sonst. Die vielen Leute auf der Straße gingen alle in eine Richtung. Nach Norden. Und auf ihren Gesichtern waren Neugier und Besorgnis zu erkennen. Als Blueskin ihnen folgte und schließlich die dunkle Rauchsäule am Himmel sah, ahnte er, dass seine gute und beschwingte Laune voreilig gewesen war. Noch bevor er den Long Acre erreicht hatte, wusste er, dass der Rauch nur einen Ursprung haben konnte: Hopes Häuschen in der Dirty Lane. Blueskin wurde schlagartig klar, dass er in der vergangenen Nacht eine unentschuldbare Dummheit begangen hatte. Mr. Wild war seit gestern nicht untätig geblieben und hatte sich das schwächste Glied in der Kette ausgesucht, um Rache zu nehmen.
Blueskin rannte, so schnell er konnte, und boxte sich den Weg frei, als ihm auf dem Hof vor dem Blue Bell Inn die Herumlungerer und Schaulustigen den Zugang versperrten. Ohne auf die entsetzten Schreie der Umstehenden zu hören oder darüber nachzudenken, ob es noch irgendeinen Sinn hatte, stürzte er sich in die lodernden Flammen, um Hope zu retten. Wenn er nur einen Augenblick innegehalten hätte, wäre ihm vermutlich die Absurdität seines Handelns bewusst geworden. Entweder war Hope kurz nach dem Ausbruch des Feuers aus dem Haus gelaufen oder geschafft worden, oder sie war längst tot. Denn das Gebäude brannte lichterloh, die Hitze im Innern war unerträglich, und ständig fielen brennende Bretter von der Decke. Kaum hatte Blueskin das Haus betreten, schon sackte die Fassade zum Hof mit einem lauten Getöse in sich zusammen. Der brennende Giebel schoss nach unten, die Dachbalken flogen wie Brandpfeile umher, und hätte sich Blueskin nicht mit einem waghalsigen Sprung unter eine Schräge gerettet, die er im letzten Moment erkannte, wäre sein nutzloses Leben im selben Augenblick beendet gewesen.
Er brauchte eine Weile, bis er wieder ein bisschen Luft bekam, auch wenn ihm jeder Atemzug in der Lunge brannte. Schließlich begriff er auch, unter welcher seltsamen Schräge er kauerte. Zwischen Hopes Haus und dem Nachbargebäude gab es einen kleinen Zwischenraum, der zu einer Art Dreieck geworden war, weil das altersschwache Haus im Lauf der Jahrhunderte zur Seite gekippt war. Wie ein nach oben hin spitz zulaufender Tunnel. Und in dem Augenblick, als er verstand, wo er sich befand, bemerkte er, dass er nicht allein war. Vor ihm lag ein Mann auf dem Boden. Regungslos und brennend. Einer der Dachbalken war auf den Mann gestürzt, und die Flammen hatten seine
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