Gegen alle Zeit
Grabmal und Kirchmauer auf dem feuchten Boden und fror zusehends.
Auf seinem Rundgang über den Friedhof kam Mr. Wild auch an der Tür zur Sakristei vorbei und prüfte, ob sie verschlossen war. Sie ließ sich nicht öffnen.
»Gut!« Mr. Wild nickte zufrieden und machte eine weitere Runde durchs Dunkel. Immer wieder hielt er an einem frisch ausgehobenen Grab unweit der Stadtmauer an, neben dem die Erde zu einem kleinen Hügel aufgehäuft war. Vermutlich war für den kommenden Tag eine Beerdigung geplant, jedenfalls stand am Kopfende der Grube bereits der Grabstein. Ob der Stein beschriftet und das offene Grab mit Brettern bedeckt war, konnte Bess von ihrem Standpunkt aus nicht erkennen.
Der Diebesfänger schaute lange in die Grube und schüttelte immer wieder den kopf. Er schien nervös zu sein, es war offensichtlich, dass er mit dem Ort und den Gegebenheiten nicht glücklich war. Inzwischen war Bess überzeugt davon, dass Henry diesen Treffpunkt ausgewählt hatte, auch wenn sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wieso seine Wahl ausgerechnet auf diesen finsteren und unheimlichen Ort gefallen war. Vor allem die beinahe zehn Fuß hohe Stadtmauer mit ihren verwitterten Zinnen, die ihren Sinn vor langer Zeit eingebüßt hatten, schien den Friedhof regelrecht zu erdrücken, und auch die alte Kirche mit ihrem baufälligen und durch Stützbalken abgesicherten Glockenturm war nicht dazu angetan, die Umgebung heimelig erscheinen zu lassen. Es waren nicht nur die Kälte und die Nässe des Bodens, die Bess immer wieder ein Frösteln über den Rücken jagten.
Sie hockten da und warteten. Nichts geschah, niemand erschien, kein Ton war zu vernehmen, keine Bewegung zu sehen. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten.
Als sie endlich die Glocken der nahen Kathedrale von St. Paul und etwas weiter entfernt die Turmuhr von Bedlam hörte, wusste sie, dass es inzwischen Mitternacht geworden war.
Beinahe im selben Augenblick quietschte die Gittertür im Torbogen, und Henrys Stimme schallte über den Hof: »Ich hoffe, Ihr musstet nicht zu lange warten, Sir.«
»Ihr seid pünktlich, Captain.« Bess fiel auf, dass er Henry in der Höflichkeitsform ansprach, was er bislang nicht getan hatte. »Das ehrt Euch.«
»So viel Höflichkeit unter Gaunern muss sein«, antwortete Henry und betrat den Friedhof. Leider konnte Bess nur seine Umrisse erkennen.
»Habt Ihr den Brief dabei?«, fragte Mr. Wild und kam näher.
»Keinen Schritt weiter!«, rief Henry und zog einen Dolch aus dem Hosenbund. »Und weg mit dem Schwert!«
»Wo ist der Brief?« Mr. Wild legte sein Schwert auf einen Grabstein und hob die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.
Bess wollte sich etwas erheben, um besser sehen zu können, doch sofort wurde sie von Quilt Arnold nach unten gedrückt und spürte den Doppellauf der Pistole an ihrem Hals. Sie ging wieder in die Knie und wandte sich unwillkürlich zur Seite. Irgendetwas war anders als noch vor einem Augenblick. Sie schaute in die Dunkelheit, doch da war nichts zu sehen.
»Wo ist Bess?«, antwortete Henry mit einer Gegenfrage.
»Ganz in der Nähe.«
»Genau wie Euer Brief, Mr. Wild.«
»Ich will ihn sehen«, sagte der Diebesfänger. »Woher weiß ich sonst, dass Ihr die Wahrheit sagt und mich nicht hinters Licht führen wollt?«
Henry kam einen Schritt näher, zog etwas Weißes aus der Innentasche seines Rockes und hielt es Mr. Wild vor die Nase, allerdings so weit entfernt, dass er nicht danach greifen konnte. »Ein Schreiben an Sir Robert Walpole«, sagte Henry, »datiert vom Dezember 1721, mit Eurer Unterschrift. Zufrieden, Sir?«
Bess wunderte sich über Henrys Dummheit. Wieso hatte er den Brief nicht irgendwo anders deponiert, damit Mr. Wild keine Gelegenheit bekam, ihm den Brief einfach zu entreißen? Glaubte Henry tatsächlich, das Ganze würde wie ein Tauschgeschäft unter Gentlemen ablaufen? Und dass Mr. Wild allein auf dem Friedhof erschienen war? »Höflichkeit unter Gaunern.« So ein Unfug!
Während sie innerlich über Henry den Kopf schüttelte, bemerkte sie einen Schatten neben sich. Sie spürte ihn mehr, als dass sie ihn sah. Dann war er verschwunden. Doch es hatte den Anschein, als stünde die Tür zur Sakristei nun einen Spaltbreit offen. Da Bess sich bewegt hatte, packte Quilt Arnold sie noch fester und drückte die Pistole gegen ihren Kiefer, dass es schmerzte. Dann folgte ein leises, zischendes Geräusch, wie ein Luftzug.
Wusch!
Im nächsten Augenblick lockerte sich der
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