Gegen alle Zeit
»Aber du brauchst nicht nach Jack zu suchen. Er findet dich .«
»Wenn er will«, ergänzte Godfrey.
»Und was passiert jetzt?«, wunderte sich Henry.
»Nichts«, meinte George und grinste blöde. »Tauch am besten ein paar Tage unter, bis sich die Aufregung gelegt hat. Das ist eben der Nachteil, wenn man berühmt ist. Als Volksheld hat man kein ruhiges Leben mehr.«
»Wie bist du eigentlich auf den Namen Macheath gekommen?«, wollte Godfrey wissen. »Klingt nach ’nem schottischen Bauerntrampel.«
»Hab ich irgendwo gelesen.«
»Dämlicher Name«, meinte George und hickste. »Captain hin oder her. Kann man das nicht abkürzen?«
»Wie wär’s mit ›Mack the Knife‹?«, antwortete Henry und lachte über den Witz, den die beiden anderen natürlich nicht verstehen konnten. Mackie Messer aus der Dreigroschenoper!
»Nicht schlecht«, sagte Godfrey.
Im gleichen Augenblick knarrte es draußen vor der Tür. Der Schrank wurde zur Seite geschoben, die Tür öffnete sich, und Mutter Blake betrat das Hinterzimmer. In der einen Hand hielt sie eine Flasche Gin und eine Kerze, in der anderen eine dampfende Schüssel, aus der ein stechender Geruch aufstieg, der Henry auf Anhieb an stinkende Chemieklos erinnerte.
»Etwas Stew und ›Mutters Wacholderfluch‹ für unseren Helden«, sagte die Wirtin und stellte Flasche und Tonschüssel vor Henry auf den Boden. »Geht aufs Haus. Jacks Freunde sind auch meine Freunde. Lass es dir schmecken, mein Junge.«
Während Mutter Blake die neue Kerze an dem Stummel auf dem Boden entzündete, starrte Henry auf den Eintopf, rührte mit einem Holzlöffel darin herum und versuchte zu erkennen, woraus er bestand. Trotz seines Hungers brachte er den Löffel nur mit Mühe an seine Lippen, doch dann stellte er erstaunt fest, dass das bis zur Unkenntlichkeit verkochte Zeug besser schmeckte, als es roch, und dass Mutter Blake offensichtlich mehr Talent zur Köchin als zur Schnapsbrennerin hatte.
»Rindfleisch?«, meinte George.
»Schwein«, vermutete Godfrey und stierte hungrig auf die Fleischbrocken.
»Schafsinnereien«, sagte Mutter Blake und entfernte den alten Kerzenstummel von einer kleinen schwarzen Platte, auf der die Kerze mit Wachs festgetropft war. »Ganz frisch aus der Butcher’s Row. Schafsmagen gab’s leider nicht, sonst hätte ich Haggis gemacht. Aber Stew tut’s auch, oder?«
Henry blieb der Eintopf beinahe im Halse stecken. Es war allerdings nicht der Ekel vor den Innereien, der ihn das Essen in die Schüssel zurückspucken ließ, sondern die blanke Überraschung. Er hatte etwas entdeckt, das nicht hierher gehörte, das eigentlich gar nicht hier sein konnte. Genauso wie er selbst. Er war völlig perplex und starrte wie gebannt auf Mutter Blakes Hände.
Die kleine schwarze Platte, auf der die Kerze gestanden hatte und die Henry zunächst für ein Stück Schiefer oder polierten Stein gehalten hatte, war nichts anderes als – ein Handy. Ein schwarzes Smartphone der neuesten Generation, mit Touchscreen, Digitalkamera, Internet-Zugang und MP3-Player. Sein Handy!
»Woher hast du das?«, fragte er, stellte die Schüssel beiseite und riss Mutter Blake das Handy aus der Hand.
»Hab’s im Keller gefunden«, antwortete Mutter Blake und wich erschrocken zurück. Sie hätte beinahe die brennende Kerze fallen lassen und stellte sie schleunigst auf den Boden. »Scheint aus Glas zu sein. Oder Marmor.«
»Marmor ist weiß«, meinte Godfrey und zog die Schüssel zu sich rüber.
»Es gehört mir«, sagte Henry, knibbelte den Wachs von der Oberfläche ab und drückte auf den seitlich angebrachten Einschaltknopf. Nichts geschah. Als er das Telefon umdrehte, sah er, dass nicht nur die hintere Abdeckung fehlte, sondern auch das Batteriefach leer war. »War noch irgendwas dabei?«, wollte er von Mutter Blake wissen. »Hast du sonst noch was im Keller gefunden?«
Sie schüttelte irritiert den Kopf. Doch dann lächelte sie verschämt, nickte schließlich und zog eine Armbanduhr aus einer Innentasche ihres Kleides. Es war Henrys Uhr, das Glas war zersprungen und das Ziffernblatt eingedrückt. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht von der Stelle. Die Uhr war um kurz nach zwei stehen geblieben.
»Was ist ’n das für ’ne komische Uhr?«, meinte George.
Henry tat ahnungslos, zuckte gleichgültig mit den Achseln und gab Mutter Blake die Uhr zurück.
»Kann ich den haben?«, fragte Godfrey und deutete auf den Eintopf.
Statt einer Antwort sprang Henry plötzlich auf, nahm die
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