Gegen alle Zeit
als letzten Eintrag: »Sarah Mobil«. Diesmal konnte er Datum und Uhrzeit erkennen: Heute Morgen um 0 Uhr 35. Nun wusste er immerhin, dass er sich um diese Zeit noch im 21. Jahrhundert befunden hatte. Was ihn allerdings nicht wirklich weiterbrachte.
Henry wollte das Telefon bereits wieder ausschalten, als ihm etwas einfiel. Nur so ein Gedanke! Er klickte den Menüpunkt »SMS« an und fand unter »Eingang« fünfundvierzig alte Mitteilungen. Die letzte SMS hatte er ebenfalls von Sarah erhalten. Er wählte den entsprechenden Eintrag und las:
31.08. Mi. 00:59
Hör auf mit dem Mist
Komm her oder verpiss dich
S.
Womit sollte er aufhören? Und wohin sollte er kommen? Besser gefragt: War er hingegangen, oder hatte er sich verpisst? Was, zum Teufel, war bloß in der vergangenen Nacht geschehen?
Wieder sah er den Schatten eines Mannes auf dem Boden im Postman’s Park. Die dunkle Pfütze daneben. Seine Hände. Er hörte Sarah schreien: »Du hast ihn umgebracht!« Und plötzlich wusste er: Er war hingegangen. Nach Little Britain. Und mit blutigen Händen davongerannt. Nein, geflüchtet.
ZWEITER TEIL
EDGWORTH BESS
Macheath:
Pretty Polly, say,
When I was away
Did your fancy never stray
to some newer lover?
Polly:
Without disguise,
Heaving sighs,
Doting eyes,
My constant heart discover
Macheath:
Hübsche Polly, sag,
als ich weg war,
streunte deine Liebe niemals
zu einem neuen Geliebten?
Polly:
Ohne Verkleidung,
Aufseufzen,
vernarrte Augen,
mein treues Herz entdecke
John Gay, The Beggar’s Opera,
Akt I, Szene XIII, Air XIV
1
Bess konnte nicht genau sagen, warum sie nach wie vor mit Jack zusammen war. Wenn sie denn überhaupt noch ein Paar waren. Manchmal erschien ihr ihre Liebschaft oder Affäre (sie wusste selbst nicht, wie sie es nennen sollte) wie eine bloße Reihe von Rückzugsgefechten in einem längst verlorenen Krieg. Es ging bei diesen Scharmützeln nur noch darum, Schulden zu begleichen und Schaden wiedergutzumachen. Ja, vielleicht waren es genau diese Schuldgefühle, die Bess bei Jack hielten, sie abhängig machten und nicht von ihm loskommen ließen. Solange sie nicht mit sich und Jack im Reinen war, kam sie nicht von ihm los. Und die verfluchte Sache mit Jonathan Wild hatte alles nur noch schlimmer gemacht. Doch das war nun erledigt, mit Jacks Flucht aus dem Newgate waren sie quitt, bald würde Bess sich selbst die Absolution erteilen können. Und dann wäre sie endlich in der Lage, eine andere Schuld zu sühnen. Diesmal jedoch nicht als Schuldnerin, sondern als Gläubigerin.
Manchmal wurde Bess geradezu wehmütig, wenn sie daran dachte, wie sie Jack Sheppard im Black Lion Inn kennengelernt hatte. Damals im Dezember 1722, als er noch kein Dieb und gefeierter Gefängnis-Ausbrecher, sondern einfach »Jack the Lad« gewesen war. Ein gutmütiger Junge, ein gewiefter und schlitzohriger Tischlerlehrling, der sich in den Tavernen und Hurenhäusern der Drury Lane herumtrieb, weil es ihm im nahe gelegenen Hause seines Meisters zu eng und langweilig geworden war.
Bess war damals seit etwa einem Jahr in London und arbeitete für die Kupplerin Mutter Needham, zu der sie nach ihrer schändlichen Vertreibung aus Edgworth verfrachtet worden war. Zunächst hatte sie in deren Hurenhaus nahe Covent Garden gewohnt, und weil das Black Lion Inn nicht weit entfernt war und unter den Huren einen guten Ruf besaß, zählte es zu Bess’ bevorzugten Lokalitäten, um Männer aufzugabeln oder ihnen an den Geldbeutel zu gehen. Bess war eine sogenannte »Buttock and File«, eine Hure und Taschendiebin, die von Mutter Needham darin unterrichtet worden war, ihren Freiern während des Akts oder kurz danach die Taschen zu leeren. Und weil sie eine fleißige Schülerin war und ein unverkennbares Talent besaß, für die Hurerei wie für das Beutelschneiden, galt sie bald als Mutter Needhams Lieblingshure. Das beste Pferd im Stall, wie es die Kupplerin und Hehlerin ausdrückte.
Mutter Needham war es auch, die ihr den Namen »Edgworth Bess« verpasste. Quasi als Künstlernamen, denn auf ihrem Gebiet sei sie ja eine Künstlerin, ob ihr das nun passe oder nicht. Ihren wirklichen Namen, Elizabeth Lyon, geborene Woodlawn, legte Bess wie ein abgewetztes und fadenscheiniges Kleidungsstück ab. Er gehörte zu einem früheren Leben, mit dem sie abgeschlossen hatte. Nicht freiwillig, aber für immer. Auch wenn noch einige Rechnungen zu begleichen waren.
Es war kurz vor Weihnachten, als sie Jack das erste Mal zu Gesicht
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