Gegen jede Regel
Nachbarn.
Ich begann mich zu fragen, ob es eine gute Idee gewesen
war, diese Wohnung auszuwählen. Zunächst gab es Musik, dann Streit und nach Ende
des Streits gegen ein Uhr am Morgen begannen die Nachbarn unter mir, ihre
Wohnung aufzuräumen, zu putzen, zu saugen, manchmal auch zu hämmern oder zu bohren.
Ich war zwar dienstlich sehr viel unterwegs, trotzdem oder
gerade deshalb hielt ich das alles nicht lange durch. Irgendwann musste ich
schlafen. Durch meine Scheidung war ich in diesen Tagen ohnehin nicht unbedingt
ein Fels in der Brandung, und in mir selbst zu ruhen, lag mir ungefähr so fern
wie der Mars. Die Wohnung, in die ich voreilig eingezogen war, erwies sich als
Folterkammer. Es gelang mir nicht, über die Zustände zu lachen, dafür machte
mich das Verhalten meiner Nachbarn viel zu wütend. Durch den Schlafmangel wurde
ich unaufmerksam und reizbar. Der Lärm, dem ich ständig ausgesetzt war, sobald
ich zu Hause war, nahm in meinen Gedanken mehr und mehr Platz ein. Ich grübelte
fieberhaft, was ich unternehmen konnte, um endlich ein wenig Ruhe zu bekommen.
Mit dem Grübeln wuchs die Wut und baute sich als unüberwindliches Hindernis
zwischen mir und meiner ersehnten inneren Ruhe auf.
Ich fand keine Lösung. Auf Ansprache reagierten die Leute
nicht. Meine uniformierten Kollegen zu rufen, schien mir zu weit zu gehen.
Eigentlich ging es nicht zu weit, doch ich war im Präsidium ohnehin schon
Gesprächsthema und musste eine Menge Spott einstecken, weil meine Exfrau mit
ihrem fünf Jahre jüngeren Fitnesstrainer zusammengezogen war. Ich wollte mir
nicht auch noch anhören müssen, dass ich selbst die Problemchen mit meinen
Nachbarn nicht allein lösen konnte.
Ein weiteres Problem war, dass ich nach meiner Scheidung
keine Kraft mehr hatte, mich unnötig mit anderen Leuten auseinanderzusetzen.
Als Polizist musste ich das täglich tun. Das reichte mir. Meine Frau nutzte das
aus und mein Anwalt warf mir vor, ich scheute die Auseinandersetzung und lasse
mich übervorteilen. Aber mir fehlte auch die Kraft, mich mit ihm auseinanderzusetzen.
Der Zorn über das Verhalten meiner Nachbarn wurde mein
täglicher Begleiter. Dann bekam ich Angst, meine Wohnung zu betreten. Ich hatte
Angst, beim Abendessen zu sitzen und keinen Bissen hinunterzubekommen, wenn die
Bässe meinen Teller tanzen lieÃen. Ich hatte Angst, im Bett zu liegen und nicht
schlafen zu können bei Putzen, Saugen, Bohren oder Hämmern. Ich bekam Angst
davor, in diesen Situationen wütend zu werden und etwas Unüberlegtes zu tun.
Und dann wurde ich wütend, weil ich Angst hatte, und bekam Angst, dass ich nun
immer wütend auf mich selbst sein würde. Es war eine verfahrene Situation, aus
der ich keinen Ausweg sah.
Ich begann, öfter im Halbdunkeln zu sitzen und der perfekt
abgestimmten Choreografie des Lärms zu lauschen, die meine Nachbarn für mich
arrangierten. Musik-Streit-Staubsauger. Jeden Abend, nahtlos, ohne Ãberschneidungen.
Meine Gedanken schwammen in meiner Wut. Eines Abends fiel mein Blick auf meine
Dienstwaffe, die ich nachlässig im Halfter über den Küchenstuhl gehängt hatte.
Er blieb dort kleben und wurde den ganzen Abend lang immer wieder magnetisch
von der Waffe angezogen.
Ohnmächtige Wut und unendliche Müdigkeit erodierten meine
moralischen Grundsätze. Ich fragte mich, welche Reaktion gerechtfertigt war,
wenn Menschen ein solches Verhalten an den Tag legten wie meine Nachbarn. Wenn
sie auf gutes Zureden nicht reagierten. Ich malte mir aus, welche verheerenden
Schäden eine Kugel wohl im kahlen Schädel des Fabrikarbeiters anrichten würde.
Ich fragte mich, ob die beiden Streithähne in ihrem nächsten Leben auch noch
weiter streiten würden. Und ich fantasierte, wie ruhig es nachts sein würde,
wenn die Nachbarn unten tot neben ihrem Staubsauger lagen, anstatt ihn über den
Fliesenboden hoppeln zu lassen. Ich begab mich auf einen gefährlichen,
abschüssigen Weg. Ich begann zu taumeln und war nur noch wenige Schritte vom
Absturz entfernt.
Ich fing mich wieder, als Nina meine Partnerin wurde. Sie
hatte gerade erst in unser Präsidium gewechselt. Sie war eine Neue. Sie war
eine Frau. Jung und attraktiv dazu. Und sie kam von der Sitte. Die ersten Witze
wurden gegrölt, noch bevor sie überhaupt bei uns war.
Als sie dann zu uns kam, wurde Nina in mehrfacher Hinsicht
zum Opfer ritualhafter Schikanen
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