Geh nicht einsam in die Nacht
den Tag R an: Sie spielten sogar ein R-Lied, es hieß Halt dich rechts, Svensson , das ihm gefiel, aber von den bemüht ruhigen Wortbeiträgen verstand er so gut wie nichts.
Am Samstag ging er durch die Stadt und machte Interviews. Er hatte sich einen Stadtplan besorgt und wagte sich nun vom Stureplan zur Nybroviken und nach Blasieholmen hinaus, ehe er über die große Baugrube mitten im Stadtzentrum zur Kungsgatan zurückkehrte. Der Autoverkehr war am Vormittag um zehn Uhr zum Erliegen gekommen, nur Rettungsfahrzeuge und Lieferanten war es noch erlaubt zu fahren. In der Stadt war Stille eingekehrt, und diese Stille war erholsam, aber nicht so vollständig, wie Jouni erwartet hatte: Die Busse fuhren auf ihren üblichen Routen die Kungsgatan und den Sveavägen und die anderen Hauptstraßen entlang. Ansonsten war die Stadt voller angeheiterter Fußgänger, nostalgischer Straßenbahnpassagiere – das Schienennetz sollte zeitgleich mit der Umstellung auf den Rechtsverkehr stillgelegt werden – und stolzer Fahrradfahrer, die es genossen, ausnahmsweise die Macht auf den Straßen zu haben.
Am Samstagabend kommentierte Jouni das Geschehen über Telefon live in den Spätnachrichten, und am Sonntagmorgen war er kurz nach vier Uhr morgens wieder auf den Straßen. In der ersten Stunde war die Stadt wie eine Kirche, nur einzelne Streifen- und Krankenwagen durchbrachen die Stille. Die Menschen schienen vom Ernst der Stunde erfasst worden zu sein. Zahlreiche Nachtschwärmer waren auf den Straßen, die meisten in Gruppen, aber sie grölten nicht wie sonst, sondern unterhielten sich leise und zeigten auf verschiedene Wahrzeichen der Stadt, als wären sie ihnen erst dank der Stille ins Auge gefallen. Um zehn vor fünf kam der große Moment. Die Fahrzeuge hielten am linken Bürgersteig und blieben zehn Minuten stehen, und wer ein Autoradio besaß, stellte es an und lauschte der R-Sendung. Um Punkt fünf bewegten sich die Autos vorsichtig auf die rechte Straßenseite und setzten sich ebenso vorsichtig in Bewegung.
Als Jouni sich an diesem Vormittag durch die Stadt bewegte, erkannte er, dass er Zeuge großer Ingenieurskunst geworden war, die eines Volkes würdig war, das die Rationalität liebte und dies mit seiner Gesellschaftsordnung feierte. Aber ihn bewegte nicht nur die Ingenieurskunst, sondern auch das Gefühl einer verlorenen Zeit. In den kleineren Straßen, in denen keine Busse fuhren, entstand eine Atmosphäre, die nichts anderes als die Atmosphäre sein konnte, wie sie in den Städten der Welt vor langer Zeit, bevor Motoren und Maschinen ihren Siegeszug antraten, geherrscht haben musste. Man hörte Menschen bei offenem Fenster weit oben in den Hochhäusern sprechen und mit ihrem Frühstücksgeschirr klappern. Niemand musste schreien, um sich Gehör zu verschaffen, eine normale Gesprächslautstärke reichte völlig aus. Es war ein wolkiger Tag mit schwachem Wind, und in den Parks raschelten die Kronen der Linden und Ulmen trocken und leise wie Vorboten des nahenden Herbstes. Als das Telefon an einer unbemannten Taxirufsäule klingelte, zuckten die Passanten furchtsam zusammen, und im gleichen Stil horchten die Leute auf, wenn in irgendeiner Kirche plötzlich Glocken über der Stadt schlugen: eine Erinnerung an die Macht, die der Ruf zum Gottesdienst über die Sinne der Einwohner einmal gehabt hatte, als die Städte noch stiller waren.
Um zwanzig nach drei ging Jouni auf dem Weg zu seinem Hotel die Kungsgatan hinab. Die Autofahrer, die an den Einfallstraßen hatten warten müssen, hatten endlich grünes Licht bekommen, so dass langsam, aber sicher Normalität einkehrte, an den Kreuzungen staute sich der Verkehr, und der Lärm war bereits unerbittlich, aber die Menschen waren heiter und freundlich, es war immer noch der Tag gelungener Ingenieurskunst. Das galt allerdings nicht vor einem Restaurant in der Nähe der Kungsbron, wo eine Clique betrunkener Männer beim Eintreten in Streit geraten war. Jouni wollte vorbeigehen, aber als er den Streit hörte und die vom Rausch verzerrten Gesichter der Männer sah, erwachten seine alten Instinkte zum Leben, und seine Muskeln spannten sich reflexartig an. Als er näher kam und hörte, dass auf Finnisch gestritten wurde, verstärkte sich seine Reaktion noch, und er kauerte sich zusammen wie eine kampfbereite Katze. Im selben Moment fiel sein Blick zufällig auf einen der Männer, einen schlaksigen, langhaarigen Burschen, der sich ein wenig abgesetzt hatte: Der Langhaarige war genauso
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