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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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lautlos in den Raum und stellte sich in den Türrahmen, ohne den Gast eines Blickes zu würdigen. Jouni musste eine ganze Weile warten, es gab weder Zeitungen noch Bücher, in denen er hätte blättern können, und normalerweise hätte er sich – ein scharfer Beobachter mit ausgezeichnetem Gedächtnis – alles eingeprägt, was er sah, jedes einzelne kleine Detail memoriert. Aber die Nerven spielten ihm einen Streich. Am Abend, als er in seiner Wohnung in Hagalund saß und den Herbstregen gegen die Fensterscheibe schlagen hörte, während Maricas Stimme A Taste Of Honey aus den Bang & Olufsen-Lautsprecherboxen wisperte, sollte er sich daran erinnern, dass der Salon einen Erker mit einem halbkreisförmigen Fenster gehabt hatte, aber hatte an der Wand neben dem Fenster ein gerahmtes Foto des Vorgängers Mannerheim gehangen oder nicht? Jouni würde sich außerdem an das spartanische Eckzimmer erinnern, in dem der Präsident und er zu Mittag gegessen hatten, er würde sich an das schlichte Geschirr auf dem kleinen Tisch mit der blankpolierten Fläche erinnern, aber war der Tisch nun rund oder quadratisch gewesen? Hatte es eine Tischdecke gegeben oder nicht? Keine Ahnung. Das Einzige, woran er sich glasklar erinnerte, war die Aussicht aus dem Eckfenster: die üppig gelben Laubbäume, der herbstlich graue Sund, der Verkehr auf der Uferstraße am anderen Ufer.
    Es sollte ihm ebenso schwerfallen zu rekonstruieren, wie sich das Gespräch entwickelt hatte. Erst nach mehreren abgebrochenen Versuchen, die Äußerungen niederzuschreiben, erinnerte er sich allmählich etwas besser. Dagegen würde er sich später mit graphischer Genauigkeit erinnern, wie der verspätete Präsident mit zügigen Schritten den Raum betreten, seine Hand mit einem kurzen und effektiven eisernen Griff geschüttelt und gleichzeitig seine Verspätung bedauert hatte. Der Präsident hatte einen gut sitzenden, hellgrauen Anzug getragen und jünger ausgesehen als seine achtundsechzig Jahre. Er hatte Jouni gebeten, Platz zu nehmen, und erklärt, das Mittagessen werde extrem leicht ausfallen, es gebe nur einen Happen: Wegen der außenpolitischen Sorgen habe er den ganzen Herbst über unter Druck gestanden, der Terminkalender des Präsidenten sei prall gefüllt, aber nun sei für vierzehn Uhr ein Lauftraining rund um die Insel Fölisön vorgesehen, da könne ein Mann in seinem Alter vorher nichts Schweres zu sich nehmen. Jouni hatte sich die Gerüchte in Erinnerung gerufen, die er beim Rundfunk über die Leibspeisen des Präsidenten gehört hatte. Es waren Gerüchte, die politische Gegner verbreiteten, aber unappetitlich waren sie allemal: Wildschweinhintern, Sülze vom Elchmaul, gedünstete Brachsenköpfe. Jouni war erleichtert gewesen, als sein Gastgeber etwas Leichtes und Anspruchsloses versprach. Aber in seinem Kopf hatte es unablässig gehämmert: Ich komme aus den Arbeitervierteln und von der Nybrogatan in Tallinge, was tue ich hier, wie bin ich nur hierhergekommen?
    Der Leibwächter war im Salon stehengeblieben und hatte Löcher in die Luft gestarrt. Ein Kellner hatte eine Silberplatte mit Schnittchen aufgetragen, das Brot war grobkörnig und dunkel gewesen. Es gab zwei Sorten Belag, gebeizten Lachs mit Dill und Tomate und eine helle, hackfleischähnliche Masse. Der Präsident nahm sich ein Brot von jeder Sorte, und Jouni folgte seinem Beispiel. Der Kellner schenkte Mineralwasser ein, das Wasser perlte und blubberte, als es im Glas landete. Hinter Jounis Rücken gab es eine kleine Bar mit Regalen voller Wein- und Schnapsflaschen, und er entsann sich der Erzählungen seiner Fernsehkollegen, laut denen bei den informellen Abendgesellschaften, die der Präsident für die jungen Radikalen und Intellektuellen des Landes gab, Whisky und Cognac in Strömen flossen. Erneut war Jouni erleichtert, dass das Angebot schlicht war, immerhin war er mit dem Auto gekommen. Er begann nervös, eines der Schnittchen kleinzuschneiden, während er sich zu erinnern versuchte, ob sein Gastgeber in einer Rauchstube irgendwo in Kajanaland im Nordosten Finnlands geboren war: Vielleicht fühlte sich ja auch der Präsident nicht wirklich heimisch im früheren Wohnhaus des Geschäftsmanns Nissen, der es dem Staat vermacht hatte.
    »Sie wundern sich vielleicht über diese etwas unkonventionelle Begegnung, Herr Manner«, sagte der Präsident mit seiner trockenen und tiefen Stimme. »Sie haben natürlich von meinen so genannten Kinderfesten gehört und werden sich zu gegebener Zeit

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