Geh nicht einsam in die Nacht
und geschluckt hatte, sagte er:
»Sie waren im August vor der russischen Botschaft, nicht wahr? Wie so viele andere auch haben Sie an Dubček geglaubt und ihn unterstützt. Und dann wollten Sie protestieren.«
»Ja, ich war da, Herr Präsident«, erwiderte Jouni.
Der Präsident schaute erneut auf den Hof und das graue Wasser hinaus und fragte: »Glauben Sie, es ist leicht, die Geschicke eines Landes zu lenken, das liegt, wo Finnland liegt? Und das außerdem eine Bevölkerung hat, die zu den starrsinnigsten der Welt gehört?«
Jouni wusste nicht, was er sagen sollte. Die korrekte Antwort lautete natürlich »nein«, aber ohne ergänzenden Kommentar klang das zu banal. Der Präsident kam ihm zuvor:
»Ein halsstarriges Volk, das sich dennoch nach Autoritäten sehnt. Diese Ambivalenz haben sich viele zunutze gemacht. Glauben Sie an Autoritäten, Herr Manner?«
Jouni dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Nicht wirklich, Herr Präsident.«
»Sie stehen in dem Ruf, ein streitbarer Geist zu sein.«
»Ich kann mich falls nötig verteidigen, Herr Präsident«, unterbrach ihn Jouni. »Das ist alles.«
»Besitzen Sie möglicherweise die Fähigkeit, Angst zu wittern?«, schlug der Präsident vor, und seine Stimme blieb ausdruckslos, als er fortfuhr: »Außerdem wissen Sie sicher genau, in welchem Augenblick Sie zuschlagen müssen.«
»Das klingt, als wüssten Sie, wovon Sie sprechen, Herr Präsident.«
Der Kellner war mit der Platte aufgetaucht, und der Präsident nahm sich ein weiteres Hechthackschnittchen. Jouni folgte seinem Beispiel, obwohl er seine Brote nur halb aufgegessen hatte. Der Präsident wedelte mit dem Zeigefinger, um zu signalisieren, dass der Kellner sich herabbeugen solle. Daraufhin murmelte er dem Mann etwas ins Ohr, allerdings so leise, dass Jouni es nicht verstand. Anschließend wartete der Präsident, bis sich der Kellner entfernt hatte, und ergriff erneut das Wort:
»Als sich das Gerücht verbreitete, dass Minister Kosygin mit einem Kriegsschiff nach Hangö kommen würde, waren alle Karten für die Fähre von Helsingfors nach Schweden binnen weniger Stunden ausverkauft. Und dabei ging es nur um einen Angelausflug, den ich angeregt hatte, als ich im Sommer in Irkutsk war.«
»Es ist doch nicht weiter verwunderlich, dass die Leute Angst haben, Herr Präsident«, sagte Jouni. »Es ist ein unruhiges Jahr gewesen.« Er zögerte, sprach dann jedoch weiter: »Außerdem geht das Gerücht, dass Sie beide über wichtige Dinge verhandelt haben.«
Das Gespräch wurde erneut unterbrochen. Eine junge Kellnerin kam mit einer glänzenden Kupferkanne herein und goss Kaffee in die bereitstehenden Tassen. Der Kellner kehrte mit zwei kleineren Servierplatten zurück, auf der einen lagen winzig kleine, salzige Pasteten, auf der andern eine Auswahl Schokopralinen. Der Präsident wartete geduldig, trank einen Schluck Kaffee und setzte das Gespräch fort:
»Mag sein. Aber als wir in Hangö an Land gingen, nachdem wir bei der Insel Örö fischen waren, wartete auf dem Kai eine Menschenmenge. Ich weiß nicht genau, wie viele es waren, zwei-, vielleicht auch dreihundert Leute. Es war eine geglückte Begegnung gewesen, und Kosygin und ich winkten den Menschen zu. Keiner hob den Arm und winkte zurück. Niemand rief etwas. Sie standen nur vollkommen still im Regen.«
»Die Einwohner von Hangö sind vielleicht der Meinung, dass sie früher schon einmal verraten wurden«, bemerkte Jouni. »Und haben Angst, dass es wieder passieren könnte.«
Der Präsident sah Jouni nachdenklich an, in seinen Augen lag ein interessiertes Funkeln.
»Ich werde Ihnen etwas erzählen, Herr Manner«, sagte er dann. »Sogar Mannerheim, der seine Gefühle eigentlich immer im Griff hatte, hat hier geweint. In diesem Zimmer. Seine eigene Nichte war Zeugin. Es war im September 1944, und er weinte um sein Land.«
Die Information überraschte Jouni. Es überlief ihn ein Schauer, dann aber begriff er, dass es ein bewusster Perspektivwechsel gewesen war. Der Präsident wollte herausfinden, wo er stand, nicht nur im Verhältnis zur Gegenwart, sondern auch im Hinblick auf die Vergangenheit. Jouni spürte seine Verärgerung größer werden, gleichzeitig wollte sich seine Nervosität einfach nicht legen. Dennoch versuchte er die ganze Zeit, seine Gefühle zu zügeln und sich ein Bild von dem Mann ihm gegenüber zu machen. Das war nicht leicht. Jouni hörte zu und beobachtete und erkannte weder die devote Verehrung des Hofstaats noch das perfide
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