Geh nicht einsam in die Nacht
Zerrbild seiner Feinde in ihm wieder. Er sah einen Mann voller Gegensätze. Einen Mann, der bereits früh gealtert war und das auch wusste, dessen Kraft jedoch noch ungebrochen zu sein schien. Rigorose Askese und Pflichtgefühl, aber mitten in seiner Strenge blitzte Humor und sogar etwas Jungenhaftes auf. Der Präsident verfügte über einen schnellen und neugierigen Kopf, aber da waren auch Gerissenheit, Ungeduld und Verletzlichkeit. Es hieß, dass es nicht gut war, den Präsidenten zum Feind zu haben, dass er ein rücksichtsloser Gegner sein konnte, und Jouni vermutete, dass dies stimmte. Aber da war auch eine Schwermut: Sie saß tief im Inneren, und Jouni ahnte sie eher, als dass sie zu sehen oder zu hören gewesen wäre, sie schwang wie ein schwacher Ton in den präzisen und gut formulierten Sätzen mit, und Jouni hatte keine Ahnung, worum es bei dieser Schwermut ging oder wo sie herrührte. Aber er wurde von einem seltsamen Gefühl erfasst, von einer Gewissheit, dass der Präsident und er einander ähnelten und der Präsident dies ebenfalls erkannt hatte, und vielleicht von der Ahnung, dass der Präsident es nicht mochte, wenn Leute so waren wie er, und dass dieses Essen folglich nicht sonderlich glücklich verlief, und mitten in seiner Angst beschloss Jouni, alle Vorsicht fahren zu lassen, und fragte:
»Um sein Land, Herr Präsident? War Mannerheim nicht Kosmopolit?«
Der Präsident lächelte grimmig und antwortete: »Ein wahrer Kosmopolit hätte nicht einen so großen Teil seines Lebens Finnland gewidmet.«
»Mag sein, Herr Präsident«, erwiderte Jouni. »Aber was ich meine, ist Folgendes: Es ist leicht, auf dem Berggipfel zu sitzen und wegen etwas so Abstraktem wie einem Land zu weinen. Aber weinte der Marschall um den einzelnen gefallenen Soldaten? Oder um die Männer, die mit zerrütteten Nerven heimkehrten?«
Der Präsident hatte einen strengen Zug um den Mund bekommen. »Ihre Standpunkte sind interessant«, erklärte er. »Ich deute Ihre Meinung so, dass Sie finden, Finlandia sollte ein Lobgesang auf das Indiviuum sein, nicht eine Hymne auf eine Nation?«
»Warum nicht?«, entgegnete Jouni und holte tief Luft, und dann kamen die Worte aus seinem Mund, ehe er sie daran hindern konnte: »Und Sie, Herr Präsident, haben Sie in diesem Zimmer geweint? Was bringt Sie zum Weinen?«
Der Präsident sah Jouni kühl an, der kleine Ansatz zu Vertraulichkeit, den es gegeben hatte, als er von der Begegnung mit den Menschen in Hangö erzählt hatte, war verschwunden.
»Mein Amt erlaubt es mir nicht, diese Frage zu beantworten«, antwortete er kurz. Er lächelte freudlos und ergänzte: »Es gibt vieles, was mir mein Amt nicht erlaubt. Ehrlich gesagt, das meiste. Und so ist es immer schon gewesen. Auch die Information über Mannerheims Tränen ist jüngsten Datums. Zu seinen Lebzeiten kam davon nichts heraus.« Der Präsident griff nach einer Schokopraline, musterte sie eingehend und legte sie dann auf den Untersetzer seiner Kaffeetasse. Die Praline begann sofort zu schmelzen. Der Präsident sagte:
»Sagen Sie mir, Manner. Falls auch unsere Studenten, zu denen Sie ja gehören, auf die Idee kommen würden, ihre Universität zu besetzen, würden Sie dann dort sein?«
Jouni zögerte nicht, sondern antwortete sofort: »Als Reporter, ja. Aber als Besetzer … nein, ich glaube nicht, Herr Präsident.«
»Dann möchten ich Ihnen noch eine Frage stellen«, sagte der Präsident. »Wenn sich Ihnen die Gelegenheit dazu bieten würde, wären Sie dann an einer anderen Karriere interessiert? Einer Laufbahn mit einer weniger unmittelbaren Gratifikation als der, die man als Journalist bekommt. Einer, in der man mit hohen Einsätzen spielt und viel gewinnt, aber auch viel verliert. Einer, in der man sich selbst verliert, wenn man richtig viel gewinnt?«
Während er seine lange Frage stellte, betrachtete er Jouni. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber für ein oder zwei Sekunden meinte Jouni darin einen Funken von einem anderen Menschen zu erkennen, einen unterdrückten, der womöglich eine völlig andere Meinung vom Leben hatte. Dann war der Funken fort, und zurück blieben die Eigenschaften, die in der Gegenwart verlangt wurden: Machtgier, Härte, Kälte. Und eine Willenskraft, von der Jouni, zum ersten Mal in seinem Leben, spürte, dass sie größer war als seine eigene.
»Ich weiß es nicht, Herr Präsident«, antwortete Jouni. »Vielleicht.« Und in einem Anfall von Ehrlichkeit, über den er selber staunen sollte, als er
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