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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Metallindustrie gegründet worden, vermutlich, damit irgendein weniger begabter Gelbkrantz, so der Name der Gründerfamilie, im Telefonbuch den Titel Direktor führen durfte wie seine Brüder. Die innersten Zirkel des Helsingforser Bürgertums funktionieren so und das schon seit vielen Generationen. Früher, als Finnland von Wald und Metall lebte, bekam der reiche Taugenichts eine bescheidene Importfirma als Betätigungsfeld. Heute, in einer anderen Zeit, bekommt der verlorene Sohn stattdessen das Kapital für ein kleines Medien- oder Consultingunternehmen. Oder er wird Angestellter im Hochschulbereich oder Verwalter einer Stiftung: Es gibt immer einen Ahnherren oder eine Ahnherrin, die Bilder gemalt oder Gedichte geschrieben hat, die dem Familiennamen einen gediegenen und kulturellen Klang verliehen haben. So geht es immer weiter, Jahrzehnt für Jahrzehnt, Jahrhundert für Jahrhundert, während sich die Welt ringsherum verändert. Im Fall des Gelbkrantzschen Unternehmens hatte das Ganze jedoch eine Wende zum Guten genommen, denn die Firma war zu einem ansehnlichen Konzern gewachsen – Henry trug nur die Verantwortung für einen Teil der Produktpalette –, und Direktor Bacher, ein Gelbkrantz mütterlicherseits, war ausgesprochen kompetent.
    Der ungehobelte Henry passte nicht recht ins Bild und tat es trotzdem. Er hielt zum gutbürgerlichen Helsingfors IFK und war ein treuer und leidenschaftlicher Anhänger der Schwedischen Volkspartei. Er wählte immer die Partei der finnlandschwedischen Minderheit, erzählte Leeni oder mir aber nie, ob er für ihren rechten oder mittleren Flügel war: einen linken Flügel gab es selbstverständlich nicht. In diesem Punkt, aber nur in diesem, glich mein Vater den Familien Gelbkrantz und Bacher und den anderen vornehmeren Finnlandschweden, von denen es in der Eigenheimsiedlung in Tallinge viele gab und mit denen ich später auch in der Stadt Bekanntschaft schließen sollte.
    Leeni gab ihr Bestes. Wenn Schweißflecken und Deodorantspray die alten Hemden verfärbt hatten, kaufte sie neue weiße Hemden, sie befestigte immer modernere Wunderbaumvarianten am Rückspiegel des verräucherten Renaults, und in den letzten Jahren meiner Jugend versuchte sie sogar, Henrys rustikale Old-Spice-Düfte durch Eau de Toilette von Givenchy und Guerlain zu ersetzen, Flacons, die sie steuerfrei kaufte, wenn sie mit ihrer Schwester Meeri nach Paris oder Stockholm reiste. Geld gab es in diesen letzten Jahren genug, Wärme war ein knapperes Gut. Abgesehen davon, dass sie mich hatten, war ein wichtiger Punkt bei Leeni und Henry folglich, dass sie das lebende Gegenbeispiel dieser Gruppenklischees bildeten, die manche Leute so gerne pflegen – dass die Finnlandschweden überkultiviert sind und sich vornehm geben, während die Finnen ungehobelt, aber herzlich sind. Aber mir ist wichtig, dass Sie eins verstehen, auch wenn ich es bisher nicht an die große Glocke gehängt habe: Ich mochte Henry und Leeni, ich mochte sie, so närrisch und stur sie auch waren, und ich möchte betonen, dass Henry unter seiner grantigen und groben Oberfläche ein warmherziger Mensch und kluger Kopf war. Das begriff ich im Grunde allerdings erst hinterher: Als ich aufwuchs, kam es durchaus vor, dass ich mich für ihn schämte.
    * * *
    Es gab einen Ort, an dem Henry und Leeni auflebten, und dieser Ort hieß auf Finnisch Mustalahti, Schwarzbucht. Oder auf Schwedisch Svartviken, wenn Henry und seine alte Mutter, Großmutter Gerda, bestimmen durften. Svartviken war der Ort, an dem wir lange Jahre ein Sommerhaus gemietet hatten, ich glaube, insgesamt waren es zehn. Es war eine kleine Bucht an einem Binnensee im nördlichen Tavastland, in einer Gegend, in der sich die weiße und die rote Seite im Bürgerkrieg knapp sechzig Jahre zuvor schwere Gefechte geliefert hatten.
    Svartviken war nicht unbedingt etwas, womit man hätte angeben können. Ein einfaches Holzhaus nur, wenn auch in Ufernähe, mit grün gestrichener Bretterverkleidung und einem schwarzen Dachpappendach. Es gab ein Plumpsklo ein paar Meter den Hügel hinauf, und direkt am Ufer, fast an der Wasserlinie, lag eine enge Sauna: keine Umkleide, nur ein Waschraum mit einem eiskalten Zementboden und eine Sitzbank, die so schmal war, dass zwei nicht allzu umfangreiche Menschen gleichzeitig auf dem höchsten Absatz Platz nehmen konnten. Das Ufer war ein schmaler Streifen, zunächst seicht mit steinigem Grund, aber dahinter wurde das Wasser jäh tief. Ein langer und klappriger

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