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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Pontonsteg führte ins Tiefe hinaus, wenn man nicht hinauswaten wollte, und der Steg endete an einer Leiter, die senkrecht in das dunkle und undurchdringliche Wasser hinabführte. Zur Uferregion gehörte zudem ein Erlendickicht, das effektiv alle Mücken in der näheren Umgebung anzog, die zahlreich vertreten und blutdürstig waren. Dort stand auch ein hübscher Räucherofen aus dunkelroten Backsteinen, den der Vermieter Kuokkanen eines Winters auf Henrys Wunsch gemauert hatte und in dem wir die Barsche und Brachsen räucherten, die mein Vater angelte.
    Am Ufer, an einer Birke vertäut, die schief gewachsen war und übers Wasser hinaushing, lag außerdem ein schmales Ruderboot, in dem Henry bei Regen fischte und in dem ich zu dem kleinen Eiland Lilla Ön hinausruderte, das mitten in der Bucht lag und eine glatte und flache Uferfelsenplatte hatte, die abgewandt vom dicht besiedelten Nordufer lag. Dieser Fels auf Lilla Ön war an heißen und sonnigen Tagen mein Zufluchtsort. Wenn die Sonne schien, angelte Henry nicht, dann gehörten das Ruderboot und Lilla Ön mir; dorthin konnte ich mich mit meinen Büchern zurückziehen und später mit meinen Pornos, als diese Zeit anbrach.
    Svartviken hatte gewisse Nachteile, aber es war dort besser als ein Sommer in der Stadt. In meinen ersten Schuljahren gab es auch solche. Als ich ganz klein war, hatten wir eine alte Gesindehütte in Mattby in Esbo gemietet, direkt vor den Toren von Helsingfors. Wir mieteten sie einige Sommer, aber die städtische Bebauung breitete sich aus wie ein Virus, und irgendwann gab der Bauer auf und verkaufte. Wo einst sein Hof gelegen hatte, standen nun Reihenhäuser und teure Villen.
    Tante Meeris Mann – später Exmann – Altti hörte von Mustalahti zwischen Ruovesi und Kuru. Altti kannte den Ortsansässigen Toimi Kuokkanen aus seiner Jugend, wir erfuhren nie, woher, landeten aber jedenfalls auf Vermittlung Alttis dort oben. Warum Henry und Leeni nie ein eigenes Sommerhaus kauften, weiß ich nicht, vielleicht war die Wohnung in Tallinge durch zu hohe Kredite belastet. Während der letzten Sommer in Svartviken hörte ich sie diskutieren, ob es denkbar wäre, dass Kuokkanen sich einverstanden erklären würde, die Parzelle zu verkaufen, statt sie nur zu vermieten, aber dabei blieb es, und kurz darauf begleitete ich sie nicht mehr dorthin, und dann kam der Frühsommer, in dem unser Leben zusammenbrach.
    Solange alles gut war, oder zumindest unter Kontrolle, war Svartviken ein Ort, an dem Henry und Leeni mehr sie selbst waren als in Tallinge. Oder vielmehr – ich merke, dass es mir schwerfällt, die richtigen Worte zu finden – ähnlicher den Menschen, die sie einmal gewesen waren oder zumindest hatten werden wollen. Und paradoxerweise harmonierten sie auch besser, je mehr jeder zu sich fand, sie gingen stärker aufeinander ein, waren aufmerksamer, mehr eins. Während der Wochen in Svartviken sah ich sie zärtlich miteinander umgehen. Ein kurzes Streicheln über eine bloße Schulter. Ein flüchtiger Kuss auf den Mund. Zwei Stirne, die scherzhaft gegeneinander stießen – Henry und Leeni waren exakt gleich groß, aber weil Leeni so hager war, wirkte sie größer, während Henry mit den Jahren immer korpulenter wurde. Als ich mich mitten zwischen Kindheit und Jugend befand, so sehr Kind, dass Leeni noch hereinkam und das Licht löschte und mir eine Gute Nacht wünschte, so viel Jüngling, dass mich bereits alle möglichen seltsamen Gedanken beschäftigten, fantasierte ich oft über eine Schwester oder einen Bruder, wenn sie ihre Bierflaschen und Handtücher nahmen, um ein nächtliches Saunabad zu nehmen. Aber ich bekam niemals Geschwister.
    Meine Eltern waren keine Familienmenschen, aber nach Svartviken kamen die Verwandten immerhin öfter als nach Tallinge. Beide Großmütter kamen jeden Sommer. Großmutter Gerda kam, solange sie lebte – sie starb, als ich dreizehn war –, während uns Leenis Mutter Raili und ihr Mann besuchten, solange wir das Haus mieteten: Sie wohnten oben in Uleåborg, so dass Svartviken ungefähr auf halbem Weg zwischen ihnen und Helsingfors lag. Großväter gab es nicht. Mein Großvater mütterlicherseits war im Krieg gefallen, als Raili mit Leenis kleiner Schwester Meeri schwanger war, und Großvater Axel starb, als ich klein war, und auch sein Tod hing mit dem Krieg zusammen, Granatsplitter waren in seinem Körper gewandert und hatten ein Blutgerinnsel ausgelöst.
    Auch Tante Meeri kam jeden Sommer. Anfangs kam sie mit

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