Geh nicht einsam in die Nacht
Altti und den Kindern, später nur noch mit den Kindern: Sie hatte sich scheiden lassen, ihren Mädchennamen wieder angenommen und hieß nun Flinck. Meine Kusinen und Cousins Sami, Merja und Jukki waren alle jünger als ich. Meine Aufgabe war es, Tischtennis und Badminton mit ihnen zu spielen, und in der ersten Zeit nahm Henry mich regelmäßig zur Seite, zwinkerte mir zu und gab mir den Rat, von Zeit zu Zeit einen Satz zu verlieren. Bis ihm klar wurde, dass ich gegen die drei auch dann verlor, wenn ich wirklich zu gewinnen versuchte. Meeris und Alttis Kinder waren alle motorisch begabt und hatten ein ausgeprägtes Ballgefühl, ich verlor sogar gegen Merja, die ein Mädchen und drei Jahre jünger war als ich. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, dass dies Henry nicht bedrückte.
Interessant an Großmutter Gerda und Raili war, dass sie zwar sehr unterschiedlich waren, aber eins gemeinsam hatten: eine vage, aber dennoch markante Unzufriedenheit mit Henrys beziehungsweise Leenis Wahl des Lebensgefährten. Gerda und Raili versuchten natürlich, ihre Meinung zu verbergen, aber sie wurde trotzdem deutlich, zum Beispiel, wenn uns eine von ihnen Weihnachten oder Ostern besuchte, aber am deutlichsten wurde sie in dem kleinen Häuschen in Svartviken, wo wir so eng zusammengepfercht waren. Gerda und Raili konnte man nicht zusammenführen, Gerda sprach kaum Finnisch und Raili ein reichlich holpriges Schwedisch, außerdem war Gerda tief religiös, während Raili Atheistin und Sozialdemokratin war. Deshalb kamen sie uns nacheinander besuchen, was gerecht war: Hatte Leeni gerade eine Woche hinter sich, in der sie sich Gerdas säuerliche Anspielungen anhören musste, wusste sie, dass bald Henry an der Reihe sein würde, und umgekehrt.
Die Unzufriedenheit der Matriarchinnen machte sich unterschiedlich bemerkbar. Gerda beschränkte sich darauf, über Leenis Kochkünste zu klagen und sich Sorgen darüber zu machen, ob ich jemals richtig Schwedisch lernen würde: Ich sprach damals einen Slang, in dem ich finnische und schwedische Worte kunterbunt mischte, wie es gerade passte. Was Raili betraf, so war Henrys Sturheit oft Wasser auf ihre Mühlen. Charley Pride und T. S. Eliot waren nämlich auch in Svartviken aktiv, und keiner von beiden wollte nachgeben. Wenn Ausflüge geplant wurden, wollte Leeni ihre Gäste zu Maler Gallen-Kallelas Landatelier oder in das Kirchdorf Ruovesi mitnehmen, um die Quelle zu bewundern, an deren Wasser der Nationaldichter Runeberg geträumt hatte, als er als junger Hauslehrer in dem Kirchspiel tätig war, während Henry zu Orten mit spannenden Namen wie Höllenschlucht und Räubergrube fahren wollte. Das einzige Ausflugsziel, auf das sich Leeni und Henry einigen konnten, war ein der Legende nach bodenloser See namens Toreseva in Virdois. Es nützte nichts, Raili verhöhnte Henry trotzdem wegen seiner Vorliebe für bäuerisch-derbe Vergnügungen.
Großmutter Railis Mann Matti war Ingenieur und einer dieser kulturell interessierten Menschen, die das Bücherregal mit einer Nationalenzyklopädie in sechzehn Bänden, einer Vase von Alvar Aalto, eigenen Auszeichnungen und Orden, Werken ausgewählter Nobelpreisträger sowie der letzten Auflage des Wer ist wer? füllen. Matti und Henry verstanden sich nicht besonders gut. Während meines letzten kompletten Julis in Svartviken gab es ein Sonntagsessen, bei dem die Erwachsenen es sich bei Steaks und Wein gut gehen ließen. Als Henry den Korkenzieher in die vierte Flasche Wein schraubte, sah ich, dass er sich gleichzeitig sammelte, um einen Witz zu erzählen, tief in ihm perlte bereits das Lachen: »Kennt ihr den über den finnischenVolksvertreter, der irgendwo in Europa auf einem Souper ist und rülpst …?«, setzte mein Vater an, und ich erinnere mich noch heute an die Wut und das Entsetzen in den Augen meiner Mutter. »Nein«, sagte Großmutter Raili kurz, und Ingenieur Matti fügte mit wennmöglich noch trockener Stimme hinzu: »Erzähl ihn ruhig.« Henry erzählte, und ich spürte die eisige Kälte, die Raili verströmte, als sie ihre älteste Tochter mit einem Blick musterte, der sagte: Und ich dachte, ich würde einen vornehmen Schwiegersohn bekommen, als du einen Schweden geheiratet hast, und dann habe ich den da bekommen.
Mehr als alles andere war Svartviken jedoch mein Versteck, mein Märchenland, ein Wildnislabor für das Schreiben, das ich vorerst lediglich als einen Kitzel spürte, als eine Ahnung in manchen Winternächten, wenn ich von den
Weitere Kostenlose Bücher