Geh nicht einsam in die Nacht
Sie sah mir in die Augen und lächelte: »Wie wäre es, wenn ich dich von jetzt an Kapi nennen würde.«
»Und warum?«, fragte ich und versuchte, ihre Hand auf der Decke wegzudenken.
»Weißt du etwa nicht, wer Kaspar Hauser war?«, sagte Eva.
»Natürlich weiß ich das«, entgegnete ich. »Aber was hat er mit mir zu tun?«
»Du beherrschst die Sprache der Menschen auch nicht so gut«, antwortete Eva. »Du solltest eine eigene Sprache finden, ein Instrument spielen lernen, malen lernen. Oder ist das hier deine Sprache?«
Als sie die letzte Frage stellte, drückte sie durch die Decke zu, aber nur ganz leicht, und danach ließ sie augenblicklich los, stand von der Bettkante auf, ging zum Fenster, sah hinaus und begann, in einem alltäglichen Ton über Kaffee und Frühstück zu sprechen. Eine innere Stimme ermahnte mich, beleidigt zu sein und mich gedemütigt zu fühlen. Aber ich empfand nichts dergleichen, ich fühlte mich warm, glücklich und geil. Allerdings hatte ich Pete gegenüber den ganzen Tag ein schlechtes Gewissen, es kam mir fast so vor, als hätten Eva und ich es durchgezogen, als hätten wir ihn betrogen.
Anfang des Herbstes versuchten Eva und Pete, offiziell zusammenzuziehen. Pete ließ die Jägaregatan als seinen festen Wohnsitz eintragen und kaufte sogar als eine Art Morgengabe zu seinem Einzug einen neuen Kühlschrank. Die »Nachtgabe« bestand aus seinen zwei Gitarren und einem alten Marshallverstärker, und diese sowie Petes ziemlich laute Art, sie zu traktieren – er war immer noch in seiner Riistetyt-Phase, Punk war sein Ein und Alles –, trieben Eva rasch in den Wahnsinn. Mehr als drei Jahre hatten sie sich geliebt, doch jetzt war diese Liebe nicht mehr zu retten. Kurz nach Weihnachten zog Pete aus, und gleichzeitig machten Eva und er Schluss.
Pete zog fürs Erste in den Stationsvägen zurück. Aber wenn man sein Elternhaus einmal verlassen und Geschmack an der Freiheit gefunden hat, findet man nur selten wieder zurück, und Pete und Veka gingen sich augenblicklich auf die Nerven. Petes ältester Bruder Juha hatte einen Freund, der eine kleine Bude in der Karlsgatan hatte, nun aber ins Ausland ziehen würde, und Pete übernahm seine Bude. Sie hatte keine Dusche, nur eine Toilette mit Waschbecken, was aber nicht weiter schlimm war, da die Wohnung mitten in Berghäll lag, wo es sowohl öffentliche Saunen als auch ein Schwimmbad gab.
Anfangs erwies sich das neue Arrangement für mich als ein Volltreffer. Jetzt hatte ich zwei Freunde mit eigenen Wohnungen, die ich überfallen konnte, wenn ich in die Stadt fuhr und nicht nach Tallinge zurückfahren wollte. Aber Pete blieb nur kurze Zeit in der Karlsgatan. Er las Bücher über Informatik und Massenkommunikation und bestand im Frühjahr die Aufnahmeprüfung an der Universität von Tammerfors. Bald würde er fast vollständig aus meinem Leben verschwinden und erst viele Jahre später zurückkehren.
* * *
Ich schlief weiter auf der Matratze in Eva Mansnerus’ Wohnung, ihre Trennung von Pete brachte mir keine Nachteile. Aber ich erreichte auch nicht die Veränderung, die ich wie nichts anderes herbeisehnte, für mich gab es die Matratze auf dem Fußboden, und nur diese Matratze. Wenn wir das Licht gelöscht hatten, lagen wir ein paar Meter entfernt voneinander im Halbdunkel und unterhielten uns. Evas Fenster ging zur Straße hinaus, von der gespenstisches bläuliches Licht hereinfiel. Oft redeten wir so bis tief in die Nacht hinein, und wenn ich hörte, dass ihre Stimme langsam und dösig wurde, versuchte ich verzweifelt, mir neue spannende Gesprächsthemen auszudenken. Am Ende gingen sie mir allerdings unweigerlich aus, und dann gähnte Eva vernehmlich, sagte »gute Nacht, Kapi, mein Freund« – sie hatte ihre Drohung wahrgemacht und nannte mich jetzt immer so –, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand auf die Seite und schlief auf der Stelle ein. Ich weiß noch, dass ich völlig von unseren Gesprächen und ihrer bloßen Nähe erfüllt war. Ich war nicht, was naheliegen könnte, total geil und frustriert, jedenfalls noch nicht. Es war ein anderes Gefühl, manchmal fühlte ich mich nahezu vergeistigt , als triebe ich auf einer Wolke aus Glück und als hätte ich alles, was ich brauchte, wenn ich nachts bei ihr lag. Erst wenn ich am folgenden Nachmittag, nach Schulschluss, in mein Zimmer in Tallinge zurückkehrte, entdeckte ich, dass ich trotz allem geil gewesen war: Offenbar wagte ich es nur nicht, ihr das zu zeigen.
Zu Pete Everi hatte ich
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