Geh nicht einsam in die Nacht
die Wohnung des Gastgebers, woraufhin Flaschen und Tabletten auf den Tisch kamen, man finsteren Rock von The Cure und Joy Division laufen ließ, Bier und Schnaps trank und die Anlage aufdrehte, bis die Nachbarn gegen Wände und Decke hämmerten. Aber da waren längst alle weggetreten. Am nächsten Morgen roch die Bude dann nach Fußschweiß und verschüttetem Bier, die Nadel des Plattenspielers schabte in der leeren Ewigkeit zwischen letztem Titel und Etikett, im Kühlschrank gab es ein eingetrocknetes Stück Käse und ein Glas Gürkchen, und auf der Matte im Flur lagen Zettel von diversen Nachbarn.
War ich glücklich? Natürlich nicht. Aber ich fühlte mich auch nicht unglücklich, eher betäubt. Ronald Reagan und Margaret Thatcher bestimmten das Weltgeschehen, im Kreml wurde in schneller Folge eine Führermumie von der nächsten ersetzt. Präsident Kekkonens legendäre eiserne Gesundheit ließ ihn am Ende doch im Stich. Nur wenige Jahre zuvor hatten die Leibärzte des Präsidenten freudestrahlende Bulletins veröffentlicht, in denen sie verlautbaren ließen, der Siebenundsiebzigjährige habe die Konstitution eines Vierzigjährigen, aber mittlerweile wurde Kekkonen als abgehalfterter, kraftloser Greis durch den Garten seiner Villa geführt. Eine neue Generation übte sich in Freiheit, indem sie in den Studentenzeitungen sowohl Kriegshelden als auch linke Ikonen verhöhnte und im Fernsehen live Fotze! rief: Letzteres erwies sich als sichere Methode, prominent zu werden.
Doch das Alte lebt neben dem Neuen stets weiter. Die linke Intelligenz mochte auf dem Rückzug sein, aber in Künstlerkreisen war ihre Position immer noch stark. Wenn Zeitschriften gegründet oder Häuser besetzt werden sollten, waren die früheren Revolutionäre verlässlich zur Stelle. Sie waren in Versammlungstechnik geschult und hatten große Erfahrung mit Debatten. Allen gemeinsam war eine ganz eigene Art zu argumentieren. Sie sprachen ausnahmslos geduldig und neunmalklug, als wären sie alle an derselben politischen Akademie gedrillt worden, wo man ihnen beigebracht hatte, dass Andersdenkende weniger begabte Menschen waren, die es zu unterweisen galt, bis auch dem verdunkelten Gehirn des Schülers ein Licht aufging.
Wir Jüngeren wurden von einem Gefühl der Ohnmacht übermannt. Die Linke hatte ihren Unternehmungsgeist verloren, ihre Pläne endeten unweigerlich in Wankelmut und Frustration. Diese Linken verloren sich beim Wein in undurchdringlichen Gesellschaftstheorien, und man sah sie nur selten lachen, höchstens einmal säuerlich oder süßsäuerlich lächeln. Jinx Muhrman war eine scharfe Beobachterin, der schnell kollektive und individuelle Eigenheiten auffielen. »Es will mir einfach nicht gelingen, eine Linke zu werden, sosehr ich es auch versuche«, beklagte sie sich eines Herbstes bei mir, »man darf nie leichtsinnig sein, und es ist strikt verboten, Spaß zu haben.«
Jinx hatte zudem einen Namen für die Menschen in der schrumpfenden Linken der Siebzigerjahre, sie sprach von der Generation Neonröhre. Darüber hinaus hatte sie eine eigene Schöpfungsgeschichte für diese Linke: Ihr zufolge hatte die Generation Neonröhre dereinst die bekiffte Generation Räucherstäbchen ersetzt. Es gab noch eine alternative Genesis, in der sich die Generation Räucherstäbchen schlicht gehäutet und in die Neonröhre verwandelt hatte. Wie auch immer, Jinx zufolge zeichneten sich ihre Mitglieder dadurch aus, dass sich ihr ganzes Leben in einem kalten und sachlichen Licht abspielte. Sie selbst und die gesamte Menschheit wurden von oben von der gleißenden und allsehenden Lampe der Analyse durchleuchtet, ebenso unbestechlich und unbarmherzig wie die Neonröhren in einem Vernehmungszimmer.
»Sie sind religiös«, erklärte Jinx. »Sie sind genauso religiös wie irgendein ostbottnischer Freikirchenpfarrer, aber sie begreifen es nicht.«
Es war unterhaltsam, Jinx zuzuhören, wenn sie darüber sprach, wie langweilig die Linken waren, und einmal meinte ich, dass das mit den Neonröhren eine gute Idee sei. »Ach, das ist doch gar nicht von mir«, murmelte Jinx verlegen. »Das kommt von Eva, du weißt schon, meine Kommilitonin, die hat sich das ausgedacht. Im ersten Semester hingen wir immer mit den Linken herum.«
»Aha, ach so, die«, erwiderte ich so zerstreut, wie es nur ging.
In irgendeinem Sommer hatte Aka Lindberg eine Vertretungsstelle in der Musikredaktion des Rundfunks. Ich hatte eine Idee, suchte den Katalog der eingegangenen Plattenfirma
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