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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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die Sprünge, und ich stellte mir vor, dass Mein Vater Der Troll gar nicht so harmlos gewesen war, wie er auf den Bildern aussah. Vielleicht war Ariel Wahl ja gar kein lieber und bekiffter Hippie, sondern ein Gewaltverbrecher gewesen, ein Charles Manson, ein bösartiger und abartiger Typ, der furchtbare Untaten auf dem Gewissen hatte? Deshalb hatten Leeni und Henry sich natürlich gezwungen gesehen, es mir zu erzählen! Sie wussten, dass ich gefährliches Erbgut in mir trug, und erkannten, dass ich es erfahren musste, damit ich rechtzeitig Hilfe suchen konnte, wenn mich der Wahnsinn packte, bevor ich mir selbst und anderen irreparable Schäden zufügte.
    In den Tagen nach den Abend- und Mittagessen mit Leeni oder Henry wartete ich also darauf, dass meine erblich bedingte Geisteskrankheit ausbrechen würde. Die innere Anspannung machte mich im Beisammensein mit den beiden zu einer anstrengenden Person, zu einer Art Ankläger. Leeni und Henry waren freundlich und geduldig und gaben ihr Bestes, um die Dinge geradezurücken, aber ich ließ mich nicht besänftigen. »Wie zum Teufel konntet ihr mich so hinters Licht führen!«, schrie ich jeden der beiden an, wenn ich aufgewühlt war, »wie zum Teufel konntet ihr nur!«
    Leeni, die immer bemüht war, ihr kühle Alltagsmaske zu wahren, wahrscheinlich aber am meisten unter meiner Raserei litt, antwortete einmal: »Es ging uns nicht darum, dich hinters Licht zu führen. Wir wollten dir eine Kindheit geben, eine ganz normale Kindheit.« Ich suchte nach einer Antwort, die sie so tief verletzen sollte, wie es nur ging. » Stop all the clocks …«, sagte ich. »So habe ich es empfunden, als ich es erfuhr. Und du, du bist irgendwohin gefahren, um dich auszuruhen !« »Jetzt dramatisierst du«, verteidigte sich Leeni, und ihre Stimme blieb überraschend trocken. »Du tust dir selber leid. Du wolltest doch ins Leben hinaus, Henry und mich fandest du alt und langweilig, warum sollen deine Uhren stehen geblieben sein, nur weil du das erfahren hast?«
    Nach der Scheidung blieb Leeni Henry gegenüber unerschütterlich loyal. »Wir lieben dich wirklich beide«, sagte sie. »Henry hat dich immer geliebt wie seinen eigenen Sohn, vor allem als es sich so ergab, dass wir keine gemeinsamen Kinder bekommen konnten.« »Aha!«, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf, »anfangs gab es also Probleme, er mochte mich nicht, als ich klein war!« Ich war nicht nur aufgebracht, sondern auch verlegen. Es war mir peinlich, das Verb »lieben« aus dem Munde meiner Eltern zu hören, vor allem, wenn es um mich ging. »Nein, nein«, seufzte Leeni und klang fast verzweifelt, »das stimmt doch überhaupt nicht! Henry ist ein guter Mann. Ein bisschen ungehobelt vielleicht, und einen schlechten Geschmack hat er auch, das ja, aber er ist ein guter Mann. Daran gibt es keinen Zweifel.«
    Henrys Haltung zur Vergangenheit war genauso nüchtern wie Leenis, er versuchte, zu relativieren und zu beschwichtigen. »Was damals passierte, ist nicht so ungewöhnlich, wie du denkst. Viele Väter sind nicht da, wenn das Kind geboren wird. Und dann … tja, dann ist es doch eigentlich gut, wenn es einen anderen gibt, nicht?«
    »Was heißt hier gut«, entgegnete ich mürrisch. »Man will doch wissen, wer man wirklich ist.«
    Darauf lächelte Henry nur traurig.
    * * *
    Es war Jinx Muhrman zu verdanken, dass Eva Mansnerus wieder einen Platz in meinem Leben einnahm. Oder ihre Schuld, je nachdem, wie man es sieht. Vielleicht bin ich aber auch nur naiv, wenn ich so denke und mir einbilde, dass es eine Alternative gab, dass ich eine Wahl hatte. Ein anderer würde möglicherweise sagen, wenn man sich als Dreizehnjähriger in die Schwester einer Frau verliebt, die zusammen mit dem verstorbenen Vater gesungen hat, einem Vater, von dessen Existenz man erst mit achtzehn Jahren erfährt, dann ist man dazu verdammt, sich für den Rest seines Lebens daran abzuarbeiten.
    Es muss im Spätherbst 1983 gewesen sein, als Eva genug von ihrem Joaquín hatte. Viel später erzählte sie mir, dass sie Joaquín und seine Geliebte zu Hause praktisch in flagranti erwischt hatte. Eva, die ihr Studium wieder aufgenommen hatte, war mehrere Stunden früher als angenommen von einem Seminar heimgekommen, und die andere Frau war die Besitzerin der Pizzeria, in der Joaquín arbeitete. Als es passierte, erzählte Eva jedoch niemandem davon, nicht einmal Jinx Muhrman, die ihre Vertraute war. Sie warf Joaquín ohne weitere Erklärung hinaus, und wer sie auf das

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