Geh nicht einsam in die Nacht
Sonovox heraus und bat Aka anschließend, ins Archiv hinabzusteigen, nach der Single Älä käy yöhön yksin/Hiljaisuuden äänet der Gruppe Joni, Ariel & Adriana zu suchen und sie nach Hause mitzunehmen, woraufhin wir an einem Julinachmittag in seiner Wohnung zusammensaßen, einen Joint rauchten, Bier tranken und sie uns nicht nur einmal, sondern gleich mehrmals anhörten. Während wir lauschten, befingerte ich den Umschlag und starrte das Bild an, versuchte aber, möglichst desinteressiert zu wirken. Es war eine altmodische Singlehülle aus fester Pappe, schwarzweiß bedruckt, und die gesamte Vorderseite nahm eines der Fotos aus dem Brunnspark ein, die ich als Gymnasiast in Adrianas Album gesehen hatte. Der Gruppenname war mit großen Buchstaben links oben eingedruckt, die Liedtitel standen unten rechts.
Als ich die A-Seite auflegte, sah ich, dass unter dem Songtitel in Klammern A. Wahl stand. Die A-Seite geschrieben von Ariel Wahl, die B-Seite geschrieben von Paul Simon. Nicht schlecht. Ich stierte wie verhext auf den schmächtigen Mann mit den Puffärmeln. Der Schwarzweißdruck war barmherzig. Er schwächte das Schrille des Puffärmelhemds ab, machte Ariels schütteren Kinnbart so gut wie unsichtbar und ließ seine zerzausten Haare weniger strähnig aussehen, als es in Farbe der Fall gewesen war. Das Foto: Ariel und Jouni flankieren Adriana, Ariel zu ihrer linken, vorgebeugt, auf einem Bein, das zweite Bein angehoben und nach hinten gestreckt, so als wäre er gerade dabei, sich in einen Gleitflug zu werfen. Aber seine fröhliche Miene war gespielt, gekünstelt. Papa . Mein Papa, der Troll. Aber auch mein Papa, der Liedermacher.
Keines der Lieder hinterließ beim ersten Hören einen größeren Eindruck bei mir. Ich war zwanzig, eventuell auch einundzwanzig – ich bin mir nicht sicher, welcher Sommer es war – und fand, dass Ariels Lied altmodisch und langweilig klang. Und The Sound Of Silence auf Finnisch: Das hielt einem Vergleich mit dem Original nicht stand, das Henry oft in seinem Renault gehört hatte.
Aka Lindberg, der ein richtiger Musiker war – er spielte Gitarre, Bass, Keyboards und Trompete –, gefiel Geh nicht einsam in die Nacht dagegen auf Anhieb. »Das ist ja ein echt guter Song«, meinte er schon nach dem ersten Hören. »Eine gute Melodie, und das sind auch nicht die gebräuchlichsten Akkorde.« Nach dreimaligem Hören war er sogar noch enthusiastischer. »Das Gitarrensolo ist wirklich klasse! Das muss Jugi Eskelinen sein, kein anderer war zu der Zeit dermaßen gut. Aber ich kapiere nicht, warum das Stück so unbekannt ist, ich habe nie von ihm gehört.«
»Wenn es dir gefällt, kannst du es ja mal im Radio spielen«, schlug ich vor.
Aka sah mich an, er war schon high und fragte:
»What’s in it for you?«
»Nothing«, antwortete ich. »Aber okay … es gibt da einen kleinen Clou. Oder sogar zwei.« Ich zeigte auf die Plattenhülle und fuhr fort:
»Der Große da ist Jouni Manner. Der Politiker, der vor ein paar Jahren Minister war.«
»Der immer Ärger mit den Frauen hat«, meinte Aka.
»Genau der. Und das da« – ich zeigte auf Adriana – »ist die große Schwester eines Mädels, das bei uns in Tallinge in die Schule ging. Sie ist tot, ist bei einem Feuer abgekratzt.«
»Die da oder das Mädel, das du kanntest?«
»Die da.«
»Und wer ist der Dritte? Iggy Pop, der die Finger in eine Steckdose gesteckt hat und zum braven Jesuskind geworden ist?«
»Weiß ich nicht«, antwortete ich. »Ich habe keine Ahnung, wer das ist.«
Als ich von der Séance bei Aka nach Hause kam, stellte ich mich vor den Badezimmerspiegel. Ich war mittelblond und ziemlich hager, aber ansonsten konnte ich keinerlei Ähnlichkeit zwischen Ariel und mir feststellen. Ich sah allerdings auch, was mir schon vor Ewigkeiten hätte auffallen müssen: dass ich nur Leeni ähnelte, dass es nichts von Henry in mir gab. Ich schüttelte den Kopf, grimassierte hässlich, versuchte ein weiteres Mal, mein Leben abzuschütteln. Ich verließ das Badezimmer, stellte mich ans Fenster und starrte hinaus. Ich wohnte im siebten Stock in einem Gebäude, das dem Haus am Stationsvägen 12 in Tallinge sehr ähnlich war. Draußen schien die Abendsonne, rostrote Trübsal, just another July evening . Ich hatte mir kürzlich ein Telefon angeschafft, es hatte Tasten statt einer Wählscheibe, und hatte auch einen Anrufbeantworter gekauft. Seit neuestem konnte man überall in der Stadt Geld abheben, man bekam eine Plastikkarte von seiner
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