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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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Evas stiefelbekleidete Füße unter dem Tisch die meinen streiften, und ich konnte mich nur mit Mühe davon abhalten, ihre Hände zu streicheln, wenn sie auf dem Tisch lagen.
    »Wo wohnst du?«, fragte Eva nach ungefähr einer Stunde, als wir jeder ein Glas Wein bestellt und geleert hatten.
    »In Näshöjden«, antwortete ich. Ich hauste dort damals in einem richtigen Loch im Erdgeschoss, eng, ungemütlich und dunkel, im Winter fand das Licht überhaupt nicht den Weg hinein.
    »Können wir nicht zu dir fahren?«, erkundigte sich Eva.
    »Doch«, sagte ich leicht zögernd, »aber ich habe nichts zu trinken im Haus. Und es ist ziemlich weit bis dahin. Wohnst du nicht immer noch hier nebenan? Jinx meinte, du …«
    »Doch, da wohne ich noch«, fiel Eva mir ins Wort. »Aber im Moment will ich da nicht sein, sonst fange ich nur an, blöde Sachen zu denken.« Sie schien kurz zu zögern, sprach dann jedoch weiter. »Ich habe Wein zu Hause. Zwei Flaschen, können wir die nicht holen gehen und dann mit dem Taxi zu dir fahren?«
    Ich blieb unten auf der Straße, während Eva hochlief, um die Weinflaschen zu holen. Es war schon halb zwölf, und es gab einen Moment, in dem mir Zweifel kamen, als ich zu ihrem Fenster hinaufblickte und sah, wie das Licht eingeschaltet wurde, worauf mir die Plötzlichkeit unserer Begegnung in den Sinn kam und dass wir uns eigentlich nicht mehr kannten. Doch als die Tür aufging und Eva mit einer Stofftasche in der Hand auf die Straße hinaustrat, verflüchtigten sich alle Zweifel. Wir nahmen ein Taxi und schlichen uns in meine Wohnung, als wären wir Diebe, obwohl keiner von uns mit einem anderen zusammen war. Wir unterhielten uns. Wir leerten die beiden Flaschen. Irgendwann gegen vier, als wir mit den letzten Tropfen in unseren Gläsern dasaßen, legte ich erst leise The Passenger und danach No Woman No Cry auf. Eva, Pete und ich hatten unsere eigenen Lieder gehabt, Songs, die uns all die Jahre hindurch begleitet und die wir zu Petes Gitarrenbegleitung auf Aspholm gegrölt hatten. Eva lag auf meiner Matratze und rauchte – für mein Bett war in dieser Wohnung kein Platz gewesen, so dass ich es verkauft und mir stattdessen eine dickere Matratze besorgt hatte –, und als ich Bob Marley aufgelegt hatte, drehte sie sich zu mir um und sagte: »Du liest meine Gedanken. Gerade habe ich gedacht, wenn du eins unserer alten Lieder spielst, will ich mit dir schlafen.«
    Als wir aufwachten, war es schon Nachmittag. Eva schlang die Bettdecke um sich und setzte sich auf meinen einzigen Küchenstuhl, während ich die Kühlschranktür und die Vorratskammer öffnete, nur um festzustellen, dass beide leer waren. Draußen war das Licht fast unnatürlich durchsichtig und grauweiß, und als ich die in meine schmutzige Decke gehüllte Eva ansah, war ich glücklich.
    »Du hast nichts zu essen?«, fragte sie.
    »Nein«, gestand ich.
    »Ich kenne da ein Lokal«, meinte sie. »Es liegt ganz in der Nähe, da könnten wir hingehen.«
    Wir zogen uns an und gingen durch Munksnäs zu einem kleinen Restaurant, das Viola hieß und in einer Seitenstraße in Meernähe lag. Das Restaurant hatte eine Tafel mit Tagesgerichten, auf der ausschließlich Hausmannskost stand. Eva bestellte Bratheringe und aß mit großem Appetit, während ich mein Schnitzel kaum anrührte. Es lag nicht am Kater, ich fühlte mich nur so hilflos. Ich hatte mit vielen Frauen geschlafen, um Eva Mansnerus zu vergessen, und dann reichte eine einzige Nacht, und alles war wieder wie früher. Ich kannte dieses Kribbeln im Bauch, die unbändig wogenden Wellenbewegungen in der Brust, die sekundenschnellen Umschwünge zwischen jubelnder Hoffnung und tiefster Verzweiflung. Es war das gleiche Gefühl wie in der Stadtteilbücherei in Tallinge an einem Junitag fast zehn Jahre zuvor, das gleiche Gefühl wie damals, als ich in meinem Jugendzimmer saß und Postcard From Bus Number Forty-Nine schrieb.
    * * *
    Schon in jener ersten Nacht drängte es mich sehr, es ihr zu erzählen. Es vibrierte in mir vor Lust, ihr zu enthüllen, dass Henry Loman nicht mein biologischer Vater war und mein wahrer Erzeuger ein Mann war, den wir beide kannten, ein Mann, dessen Foto wir studiert hatten und der über die Musik mit Evas Schwester liiert gewesen war. Und am liebsten hätte ich nicht nur über Ariel, sondern auch über Adriana gesprochen. Eva hatte nie gerne von ihrer Schwester erzählt, selbst als Adriana noch lebte, hatte sie kaum etwas gesagt, das Fotoalbum war eine Ausnahme

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