Geh nicht einsam in die Nacht
poliere, wenn Leeni und ich noch einmal seine Visage sehen müssen. Er behauptete, er hätte einfach nur … nun ja, dich sehen wollen. Ich sagte ihm, dieses Recht habe er verwirkt, als er sich seiner Verantwortung nicht gestellt habe. Er versuchte zu sagen, damals sei er erst siebzehn gewesen und dass du auch sein Kind seist. Aber mittlerweile war ich wirklich wütend und sagte, wenn er nicht sofort die Schnauze halte und verschwinde, dann würde ich ihn umbringen. Das war dumm von mir, denn wie gesagt, eigentlich war er ganz brav. Und ängstlich. Aber ich war eben auch ängstlich. Ich hatte Angst, dass er seine Kumpels zu Hilfe rufen und etwas Furchtbares tun könnte. Dich entführen oder noch etwas Schlimmeres. Also bin ich ehrlich gesagt ziemlich grob mit ihm umgesprungen, ich glaube, ich habe ihn sogar ein bisschen geschlagen.«
»Ein bisschen geschlagen. Was zum Teufel soll das denn heißen?«
»Nur ein oder zwei Mal. In den Bauch und so, nicht ins Gesicht. Und dann habe ich ihn ziemlich heftig weggestoßen … so dass er auf die Straße plumpste. Aber ich musste doch Leeni zeigen, dass ich keine Angst hatte. Nicht vor Wahl und auch nicht vor Hurme und Suhonen und den anderen. Es war schon schlimm genug, dass Leeni sich so vor ihnen und allem, was sie trieben, fürchtete.«
Henry verstummte, hob sein Glas und sprach ein wenig zögernd weiter. »Prost, Frank. Das ist … harter Tobak. Aber ich bin trotzdem froh, dass wir hier sitzen und darüber sprechen. Es hat gedauert …«
»Ja, verdammt«, erwiderte ich. »Ich kann euch einfach nicht mehr böse sein.« Ich trank einen Schluck Whisky und fragte: »Und danach hielt er sich für immer fern?«
»Fast«, antwortete Henry. »Wir sind dann ja aus der Stadt nach Botby hinausgezogen. Nicht zuletzt, um von ihm wegzukommen. Wir nahmen unsere Adresse und die Telefonnummer aus dem Telefonbuch und haben sie erst wieder darin aufnehmen lassen, als du in die Schule kamst. Wir versuchten, Wahl zu vergessen, so gut es eben ging, aber dann rief er plötzlich in irgendeinem Winter an. Du bist an den Apparat gegangen und hast gewartet, bis die Verbindung stand, und dann hast du den Hörer an Leeni weitergereicht und gesagt: Da ist einer dran, aber er sagt nichts. Leeni war freundlich und versuchte, mit ihm zu sprechen, er rief aus Stockholm an, weiß der Teufel, wie er sich das leisten konnte. Aber aus dem Gespräch wurde nichts, er stotterte und redete nur wirres Zeug, und als ich sah, dass Leeni Angst bekam, kapierte ich natürlich, wer am Apparat war, und sagte ihr, sie solle auflegen. Und das tat sie auch, und danach waren wir beide erleichtert, dass er nichts mehr von sich hören ließ. Obwohl wir natürlich geschockt waren, als wir im Herbst erfuhren, dass er verschwunden war.«
»Du hast gesagt, dass Manner versucht hat, der Sache auf den Grund zu gehen«, sagte ich. »Was hast du damit gemeint?«
»Nur, dass er nach Schweden gefahren ist und herauszufinden versucht hat, was passiert ist«, antwortete Henry. »Ich weiß noch, dass er einen Bericht in den Fernsehnachrichten daraus machte. Es war ungewöhnlich, dass im Fernsehen etwas über einen mysteriösen Kriminalfall kam. In diesen Jahren ging es eigentlich immer nur um Politik. Aber Manner war ein origineller Journalist, er machte oft Sachen, die ein wenig anders waren.«
»Und was fand er heraus?«, fragte ich ungeduldig.
»Ich erinnere mich nicht genau«, meinte Henry. »Das ist alles schon so lange her. Viel war es jedenfalls nicht. Dass man Hurme und Wahl niemals finden würde, weil die Unterwelt wisse, wie man Spuren verwische. Und dann ging es viel um diese Gang, mit der er in Schweden zusammenhing, ziemlich harter Tobak.«
Henry hatte seinen Whisky geleert, genau wie ich. Er gab der Kellnerin durch ein Zeichen zu verstehen, dass sie uns noch zwei bringen solle, und fuhr fort:
»Leeni ist ihre Furcht niemals ganz losgeworden. Noch Jahre später … manchmal bildete sie sich ein, ihn auf dem Heimweg von der Arbeit in der Linie 49 gesehen zu haben. Oder dass Wahl und ein anderer einen Kiesweg hinabgingen, als sie im Wald hinter Hiitelä alleine Pilze sammeln war. Oder in dem Sommer, in dem wir nach Stockholm gefahren sind, da hatte sie ihn in irgendeinem Kaufhaus gesehen, als du und ich im Kino waren und den Paten gesehen haben, erinnerst du dich?« Henrys Blick verlor sich in der Ferne, und er blieb lange stumm. Er war schon ziemlich betrunken und wurde allmählich sentimental, seine in die Ferne
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