Geh nicht einsam in die Nacht
bekam Lust, den Frauen um uns herum seine Eitelkeit zu enthüllen, dass er seine Lesebrille in der Tasche liegen ließ und die Speisekarten der Restaurants studierte, ohne zu sehen, was auf ihnen stand, oder dass er eine Nagelfeile und feuchte Tücher in seinem Portemonnaie verwahrte. Aber mein Zorn war immer schnell verraucht, denn auch ich blieb nur selten mit leeren Händen zurück. Und es war sicher gut, dass wir beide Frauen fanden, denn Jouni Manner wurde überall erkannt, und auch mein Gesicht war nicht mehr völlig unbekannt. Meine Artikel hatten viel Aufmerksamkeit erregt, und ich war sogar ein paar Mal als Repräsentant einer neuen, mondänen Generation im Fernsehen gewesen. Die eine oder andere Augenbraue wurde gehoben, wenn Manner und ich uns gemeinsam durch die nächtliche Stadt bewegten, und wären die Frauen nicht gewesen, hätte es sicher irgendeinen Klatschjournalisten gegeben, der auf die Idee verfallen wäre, dass wir uns outen wollten.
Anfangs war unser Umgang nüchtern und unsentimental. Beim Essen diskutierten wir oft über Politik und Gesellschaft, und ich ermunterte Manner, mir von den sechziger Jahren zu erzählen. Dafür hatte ich meine Gründe, aber ich bekam ihn niemals an den Punkt, an dem ich ihn haben wollte. Die Gelegenheit, auf die ich wartete, wollte sich einfach nicht ergeben. Aber es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören. Er war ein guter Erzähler, seine Geschichten waren lebensprall und die Pointen gut gesetzt, und er entwickelte kühne Gedankengänge dazu, wie sich der Zeitgeist im Laufe seiner Lebensspanne verändert hatte und sich künftig verändern würde.
Bei einem Essen im Bellevue erzählte Manner mir von einem Mittagessen unter vier Augen bei Präsident Kekkonen im Herbst 1968. Seine Schilderung des früheren Herrschers faszinierte mich: damals so eloquent und scharfzüngig, heute kaum noch am Leben. Ich erzählte meinerseits, wie sehr mich die allwissenden Linken genervt hatten, als ich meine Karriere begonnen hatte. Manner lachte und sagte: »Die waren die ganzen siebziger Jahre hinter mir her. Sie nannten mich Kanalarbeiter, und das war das Schlimmste, was sie sich vorstellen konnten.«
Dieser Abend endete anders als sonst. Wir gingen ins Metropol, und dort überkam mich eine plötzliche Sehnsucht nach Eva, und ich versank in tiefer Nostalgie. Ich trank zu viel, und als sich der Abend dem Ende zuneigte, war ich völlig von der Rolle. Trotz meines mitgenommenen Zustands nahm ich noch wahr, dass Manner mit einer Frau aufbrach, die fast so groß war wie er selbst, eine kräftig gebaute Blondine. Ich scherte mich nicht weiter darum: Unsere Nächte endeten häufig so, anfangs waren wir zu zweit unterwegs, dann begann die Jagd auf Frauen, und wir verloren uns aus den Augen.
Diesmal wollte Manner sich jedoch verabschieden. Das Taxi nach Skatudden war schon bestellt, aber er kam trotzdem noch einmal kurz zu dem Tisch, an dem ich herumhing, und fragte:
»Kommst du zurecht, Frank?«
Er legte einen kräftigen Arm um meine Schultern und drückte zu. Es war die gleiche Kameradschaftlichkeit, die er auf der Arbeit zeigte, allerdings ergänzt um eine große Dosis Wärme und Fürsorglichkeit. So hatte ich ihn noch nie gesehen.
»Ich komme schon zurecht, Jouni.«
»Nenn mich Jone«, sagte er. »Wir sind jetzt Freunde.«
»Okay, Jone«, erwiderte ich.
»Du trinkst zu oft und zu viel, Frank. Steckt eine Frau dahinter?«
»Könnte sein.«
»Es gibt bessere Wege zu vergessen als das da«, sagte er und zeigte auf mein Whiskyglas. »Arbeit, zum Beispiel. Der Schnaps verleitet einen nur, sich zu erinnern.«
* * *
Ich befolgte seinen Rat, und es wurde ein Sommer voller intensiver, einsamer Arbeit. Ich schrieb für KYVYT und andere Zeitschriften, ich arbeitete an einem Theaterstück, ich versuchte, Erinnerungen aus Tallinge zu Papier zu bringen. Ich begriff nicht, dass es dafür noch viel zu früh war. Darüber hinaus gab es die Essen mit Manner und unser Nachtclubleben und die kurzzeitigen Kontakte, die sich aus Letzerem ergaben. Andere menschliche Kontakte hatte ich nicht, ich arbeitete so hart, dass meine Freundschaften im Sande verliefen.
Leeni und Henry traf ich inzwischen eher selten. Ich glaube, der ganze Sommer verging, ohne dass ich mit ihnen telefoniert oder sie gesehen hatte. Dabei wohnten wir alle in derselben Stadt, jedenfalls noch. Sowohl Leeni als auch Henry hatten neue Lebensgefährten gefunden, und sie stammten beide nicht aus Helsingfors. Leenis Neuer war ein
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