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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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einsam in die Nacht höre, desto stärker ergreift das Lied mich. Diesmal könnten auch die Umstände das ihrige beigetragen haben. Die offene Balkontür, die lau hereinströmende Luft. Die Dämmerung draußen, die silbrig glänzende Wasserfläche. Ich erinnere mich, dass der Song in meinen Ohren nicht nur schön klang, sondern auch alt, fast schon uralt. Keine blubbernden Synthesizer, keine jaulenden Gitarren, keine verlassen peitschenden Trommeln, nur sanfter und sehnsuchtsvoller mehrstimmiger Gesang, der wie eine Botschaft aus einem versunkenen Atlantis klang. Vielleicht war gerade das so eigentümlich, Ariels altes Lied in einer Zeit zu hören, die in einem pulsierenden wirtschaftlichen Boom dahinraste, ihn in einer Stadt zu hören, in der die Menschen zu vergessen suchten, woher sie kamen und wie unsicher und ärmlich alles bis vor kurzem noch gewesen war. Ich warf zufällig einen Blick auf Manner, sah, dass sich seine Lippen zu den Worten bewegten, und hörte es: Er sang. Er sang die tiefste der drei Stimmen, und er sang sie in seinem Wohnzimmer so rein und klar wie auf der Platte, die Jahre hatten seiner Stimme nicht geschadet. Und ich sah, dass er gerührt war, ab und zu den Text vergaß und sich auf die Lippe biss. Plötzlich liefen mir kalte Schauer über den Rücken. Es war, als hätte ich endlich verstanden, wie tot die beiden anderen Sänger tatsächlich waren, ich begriff, wie verloren sie für Manner waren und wie verloren Ariel für mich war, ich sah all die Jahre, die bereits vergangen waren.
    Als das Lied endete, wollte ich nicht als Erster das Schweigen brechen. Es war ein spannungsgeladener Moment. Irgendetwas sagte mir, dass Manner das Lied schon sehr lange nicht mehr gehört hatte. Auch er schwieg, so dass es lange still blieb, in der Ferne heulte eine Polizeisirene, man hörte die Stimmen der Menschen, die am Ufer spazieren gingen oder auf nahegelegenen Balkonen saßen.
    »Viele glauben, dass Jugi Eskelinen das Solo gespielt hat«, ergriff Manner schließlich das Wort. »Nur die richtigen Musikfreaks erinnern sich noch an unsere Platte und schreiben, dieses Solo sei einer der frühesten Beweise für Eskelinens Genie. Dabei war es Ari.«
    »Bist du sicher? Also dass er … dass Ariel es gespielt hat?«
    »Ich war doch verdammt nochmal dabei! Ari zeigte Eskelinen, wie das Solo ging, und Eskelinen meinte, Ari solle es selbst spielen. Ich habe oft gedacht, wenn ich Eskelinen treffe, werde ich ihn fragen, was für ein Gefühl es ist, das Lob für etwas einzustreichen, was man gar nicht getan hat.«
    »Was hatte Ariel für eine Gitarre?«
    »Er hatte zwei. In dem Frühjahr hatte er sich seine E-Gitarre gekauft. Mit Gitarren kenne ich mich nicht aus, aber ich glaube, es war eine schwedische. Sie war schwarz. Und damit meine ich nicht nur die Farbe. Ari kaufte sie einem Hehler ab, sie war gestohlen.«
    Bei der Erinnerung lächelte er schief, und ich nutzte die Gelegenheit:
    »Warum habt ihr aufgehört?«
    Manner breitete in einer entschuldigenen Geste die Hände aus.
    »Ich kann nur für mich antworten. Ich fand diese Popwelt albern. Ich hatte andere Träume.«
    Ich zeigte auf die Plattenhülle, die zwischen uns auf dem Tisch lag:
    »Die anderen lachen und albern, du nicht.«
    »Sie hatten einen guten Tag«, erwiderte Manner lakonisch. »Als wir ein paar Wochen später ins Studio gingen, brachen sie beide zusammen.« Er schien seine Worte zu bereuen, denn er sprach schnell weiter: »Es gab aber auch vieles, was gut lief. Wir drei verstanden uns gut. Es machte Spaß, zusammen zu den Auftritten zu fahren. Das Publikum mochte uns nicht immer, aber mir machte das nichts aus. Und Ari … ich weiß nicht einmal, ob er es überhaupt merkte. Addi reagierte dagegen sensibel auf so etwas.«
    Manner schaute auf den Tisch herab und fügte leise hinzu: »Es war schön, Addi nahe zu sein. Und es war schön, Aris Lieder als Erster hören zu dürfen.«
    »Wie viele schrieb er?«, fragte ich.
    »Ziemlich viele. Aber wir kamen nie dazu, sie einzustudieren, wir hatten sie gerade erst gehört, als … tja, ich sage wohl besser, wie es war: Ariel gab mir die Schuld, er meinte, ich hätte uns aufgelöst.«
    »Stimmte das?«
    »Nein. Wir waren nur so verschieden. Die beiden waren Träumer. Und Träumer sind fantastische Menschen, ermüden einen aber auch. Und sich selbst. Sie ermüden sich selbst und andere und …«
    Manner verstummte, er sah aus, als hätte er mehr sagen wollen, jedoch vergessen, was. Er stand auf, ging

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