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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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trug. Er war die meiste Zeit high. Wollte sich nur Geld für Haschisch beschaffen.«
    Ich dachte an Henry. Seine Bögen und die Tischtennisplatte und seine Charley-Pride-Kassetten erschienen mir plötzlich richtig attraktiv, sogar die hirnverbrannten Sportwettkämpfe und der süßliche Schweißgeruch in Henrys Achselhöhlen kamen mir vor wie Erinnerungen, die man gerne an seinen Vater hatte.
    »Die Sache war die«, fuhr Manner fort, »sobald ich eine Frage zu Ariel und Hurme stellte, wurde es mucksmäuschenstill. Keiner sagte auch nur ein einziges Wort. Sie drohten mir sogar und meinten, wenn ich weiter solche Fragen stellen würde, könne ich genauso enden wie die beiden.«
    »Hast du Angst bekommen?«
    »Aus dem Weg geräumt zu werden? Nein. Hier in Finnland war ich ein bekannter Journalist, wenn sie mich aufs Korn genommen hätten, dann hätten sie jahrelang nicht mehr in Ruhe ihren Geschäften nachgehen können. Aber ich kam zu dem Schluss, dass, nun ja…« – er betrachtete mich forschend, als versuchte er zu beurteilen, ob ich klare Worte ertragen würde oder nicht – »… dass Ariel und Hurme etwas gesehen hatten, was sie besser nicht gesehen hätten, und auf dem Grund der Ostsee oder mit Gewichten an den Füßen in irgendeinem See lagen.«
    Jetzt war ich es, der von Gefühlen überwältigt wurde. Ich glaube, ich blieb minutenlang stumm, griff nach der kleinen Plattenhülle und starrte das Bild von Jouni Manner, Adriana Mansnerus und dem schlaksigen Faxenmacher in Puffärmeln an. Mein Vater der Troll, der zu Mein Vater der Liedermacher befördert worden war, um nun zu Mein Vater das Fischfutter degradiert zu werden. Das Ganze war idiotisch, und ich, der ich nie gewusst hatte, wer ich war, wusste es nun weniger als je zuvor. Ich versuchte, mich damit zu trösten, die schöne Adriana anzusehen: Vielleicht war es der Rausch, vielleicht auch die Rührung, jedenfalls fand ich, dass sie aussah wie eine dunklere Kopie von Eva, und ich fragte mich, warum ich bisher nicht auf die große Ähnlichkeit reagiert hatte.
    »Wusste Adriana, dass Ariel … von mir wusste?«
    »Nein«, antwortete Manner. »Ich hielt Kontakt zu Addi, bis sie … starb. Wenn sie krank war und wenn es ihr besser ging. Wir sprachen über alles, wir hatten praktisch keine Geheimnisse voreinander. Außer der Sache mit Aris Kind, das behielt ich für mich.«
    Es war spät geworden und mein Urteilsvermögen von Wein und Whisky so benebelt, dass ich beschloss, Manner herauszufordern:
    »Hattest du eine Beziehung mit Adriana?«
    »Natürlich. Wir waren eng befreundet. Aber wir schliefen nicht miteinander, wenn du das meinst. Was das anging, hatte Addi schlechte Erfahrungen gemacht.« Er zuckte mit den Schultern und ergänzte: »Carita dachte allerdings, wir würden es tun. Sie hasste es, wenn ich mich mit Addi traf. Wir stritten uns oft deshalb, es war einer der Gründe dafür, dass Carita und ich uns scheiden ließen.«
    Manner hatte sich ein weiteres Glas Lagavulin ohne Eis und Wasser hinter die Binde gekippt und schenkte sich das nächste ein. Das flache, aber breite Glas wurde mehr als halb gefüllt, er schien immer weitertrinken zu wollen, und ich hatte ihn noch nie so mitteilsam erlebt. Erst jetzt begriff ich, warum er so beharrlich geschwiegen hatte: Er ertrug die Erinnerungen nur, solange er sie für sich behielt.
    Plötzlich stand er schnell und überraschend gelenkig von der Couch auf und sagte:
    »Warte hier, ich bin gleich wieder da, ich will dir was zeigen.«
    Er verschwand in seinem kombinierten Arbeits- und Gästezimmer, in dem ich mehrmals auf einer Bettcouch übernachtet hatte. Ich hörte ihn Kommodenschubladen aufziehen und in Papierstapeln wühlen und ahnte bereits, was mich erwartete: ein Erinnerungsartefakt, wie es die Menschen gerne zu nächtlicher Stunde vorzeigen, sobald der Alkohol die Sentimentalität hervorgelockt hat, die sie im Alltag verbergen.
    Er kehrte mit einer alten, vergilbten und an den Rändern ausgefransten Ansichtskarte zurück. Das verblichene Foto zeigte eine Uferpromenade im Sonnenuntergang, und in der linken oberen Ecke stand in bauchigen, gelben Lettern »Las Palmas Gran Canaria«. Ich drehte die Karte um und betrachtete die fahrig geschriebene Adresse. Jouni Manner, Nybogatan 3 B 26, Tallinge, Helsingfors, FINLANDIA . Der Poststempel gab als Datum den 17. März 1967 an. Der eigentliche Text bestand aus knapp zehn Worten in hübscher, aber leicht zittriger Handschrift. Ich nahm mein Schulfranzösisch zur

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