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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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ankamen, waren die Ärzte und Schwestern vorgewarnt gewesen, hatten bereits ein Isolierzimmer hergerichtet und standen bereit, Nadia intravenös hohe Dosen Antibiotika zu verabreichen. Sie litt an einer aggressiven bakteriellen Infektion im Bindegewebe unter dem Auge, und wenn diese auf das Gehirn oder andere lebenswichtige Organe übergreifen sollte, würde Lebensgefahr bestehen.
    Ich warf mich auf der Stelle in ein Taxi und fuhr ins Krankenhaus. Als ich dort ankam, war Eva völlig aufgelöst. Ich packte ihre Schultern, zog sie an mich und umarmte sie, und sie presste sich an mich, durchnässte mein Hemd mit ihren Tränen und wiederholte immer wieder: »Und ich hab sie nur geschüttelt und angeschrien, sie soll sich nicht so anstellen, sie stirbt, und ich Idiot schreie sie an, dass sie sich nicht so anstellen soll!«
    Ich versuchte, Eva zu beruhigen, und sagte ihr, dass ich bei ihnen bleiben würde und dass die Ärzte und Krankenschwestern sicher wüssten, was sie taten. Aber ich war nicht wirklich die Ruhe selbst, denn die schnellen Schritte und die intensive Geschäftigkeit der Schwestern und des diensthabenden Arztes ließen mich erkennen, dass Nadia wirklich in Gefahr war.
    Wir wachten fast zweiundsiebzig Stunden an Nadias Seite, da erst war die Gefahr endgültig gebannt. Ich übernahm die Nächte, damit Eva vormittags unterrichten konnte. Irgendwann zwischen Mitternacht und zwei Uhr kam ich ins Krankenhaus, und Eva fuhr nach Hause, um ein paar Stunden zu schlafen – hinterher gestand sie mir allerdings, dass sie an diesen Tagen kein Auge zugemacht hatte – und zur Schule zu gehen. Ich legte mich auf die dünne Matraze neben Nadias Bett und konnte auch nicht schlafen: Ich hatte Bücher mitgenommen und las die ganze Nacht. Nadias Zimmer hatte eine eigene Tür zur Nordenskiöldsgatan, und von Zeit zu Zeit trat ich in den Nieselregen hinaus und rauchte.
    Es waren seltsame Tage, ich habe sie nie vergessen. Der dichte Nebel, die Regentropfen, die so fett und schwer von den Ästen der Laubbäume herabhingen wie in Tallinge vor langer Zeit. Der verblüffte Freudentaumel in West- und Ostdeutschland und die fantastischen Neuigkeiten aus Prag auf dem Bildschirm des alten Salora-Fernsehapparats im Aufenthaltsraum der Station. Ich weiß sogar noch, welche Bücher ich damals las: Ulla-Lena Lundbergs Roman »Leo«, eine Biographie über François Truffaut und eine Auswahl von Borges’ Erzählungen.
    Aber vor allem erinnere ich mich an Eva. Ich weiß noch, wie sie am Kopfende von Nadias Bett stand, als ich im Krankenhaus eintraf. Es war in der zweiten Nacht, die Infektionswerte wollten einfach nicht sinken, und Nadia war müde und erschöpft, sie hatte nicht einmal mehr genug Kraft, um zu weinen und zu jammern. Stattdessen schlief sie fast die ganze Zeit, und in den kurzen wachen Phasen lag sie da und starrte ins Leere. Die Schwestern waren weiterhin betont leise und geschäftig, sahen mir oder Eva nur ungern in die Augen und verhielten sich auffällig sachlich und kurz angebunden, vor allem mir gegenüber. Sie wussten, dass ich weder der Vater noch Evas neuer Mann und auch kein enger Verwandter war, weshalb es ihnen schwerfiel, meine Rolle zu definieren. Jetzt schlief Nadia, und Eva betrachtete ihr kleines, aber unförmig angeschwollenes Gesicht, und über Evas Wangen liefen Tränen, als sie immer wieder murmelte: »Ich liebe sie so, ich weiß nicht, was mit mir werden soll, wenn sie stirbt, ich liebe sie so.«
    Endlich hatte ich Eva dieses Wort aussprechen hören, das sie zu mir nie gesagt hatte und das ich sie nie zu einem anderen Mann oder ihren Eltern oder irgendwem sonst hatte sagen hören. Ich sah sie an und dachte, dass sie sich entschlossen hatte, allein zu leben, obwohl sie selbst und alle anderen wussten, wenn sie wollte, konnte sie fast jeden Mann haben. Bilder schossen mir durch den Kopf, ich sah Catherine Mansnerus’ leicht aufgedunsene Wangen und das Wermutglas in ihrer Hand, wenn sie die Tür zu ihrem Haus in Tallinge öffnete und mich hereinließ, ich sah Adriana in der Küche in einer Dezembernacht vor langer Zeit, ich sah ihren flackernden und abwesenden Blick und hörte sie vage Andeutungen über den nahenden Tag des Weltuntergangs murmeln, und dann sah ich sie und Eva auf Aspholm, ich sah eine lachende Eva am Küchentisch zusammen mit Pete Everi und mir, und ich sah Adriana, die mich halb verborgen hinter den Bäumen am Ufer beobachtete. Und nun sah ich Eva hier stehen und bei der schlafenden Nadia

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