Geh nicht einsam in die Nacht
wachen, und zum ersten Mal in meinem Leben sah ich die Generationen und wie sie in den Familien aufeinanderfolgten, als eine Angelegenheit der Frauen. Ich sah eine Geschichte von Müttern, Töchtern und Schwestern statt der Geschichte von Vätern, Söhnen und Brüdern, auf die ich bis dahin so fixiert gewesen war. Ich erkannte, wie hartnäckig ich an meinem Recht festgehalten hatte, Eva als einen starken und unverletzlichen Menschen zu betrachten, und manchmal hatte ich sie sogar als Feind und Gegnerin gesehen. Ich hatte mich ihr so unterlegen gefühlt, dass ich nie verstanden hatte, nicht einmal in die Nähe des Gedankens gekommen war, dass auch Eva Angst haben und sich schwach fühlen konnte, dass auch sie Momente brauchte, in denen sie sich auf die Stärke eines anderen, zum Beispiel meine, verlassen durfte.
Nach wochenlangem Nebel und Regen kam spät im November ein schöner Tag, an dem die Sonne kurz über den Horizont kroch und ein bernsteingelbes, fast überirdisches Licht aussandte, von dem die Wassertropfen in den Bäumen so durchbohrt wurden, dass sie wie kleine Laternen schienen. Nadia ging es bereits besser, sie war außer Gefahr und konnte Besuch empfangen, Großvater Göran und Großmutter Catherine kamen ins Krankenhaus, und Nadias Gesicht war nicht mehr aufgedunsen und unförmig, stattdessen hatte sie einen dunkelblauen, fast schwarzen Ring rund um das linke Auge und sah aus wie eine Mischung aus Mädchen und Panda. Sie sprang im Aufenthaltszimmer in Göran Mansnerus’ Arme und rief »Opa!« mit all dem Glück in der Stimme, das nur ein Kind empfinden kann. Und Eva, die mich ihren Eltern mit den Worten vorgestellt hatte, »das ist Frank Loman, mein bester Freund, ihr erinnert euch doch noch an Frank?«, schob sich hinter mich und flüsterte nicht, sondern hauchte ein Wort in mein Ohr: Danke.
An einem Samstagabend Mitte Februar sollte Nadia bei Evas Eltern in Munsknäs übernachten. Eva lud mich zum Essen in ihre Zweizimmerwohnung ein. Sie hatte ein Trüffelrisotto gekocht und Kerzen angezündet, sowohl Duftkerzen als auch normale, und sie im Wohnzimmer, in der Küche und im Flur angezündet: Überall brannten Kerzen, sogar im Badezimmer standen sie und verbreiteten ihren Wohlgeruch.
Wir unterhielten uns lange und ernst. Wir sprachen über meine Naivität in den ersten Jahren als Erwachsener, über Evas Angst vor Nähe und darüber, sich gleichzeitig nach anderen Menschen und nach Einsamkeit zu sehnen. Wir sprachen über meinen Besuch bei Leeni und Osmo in Jyväskylä und über Görans und Catherines triste Ehe und lange über Adriana.
Eva erzählte von ihren schlaflosen Nächten, als Nadia krank war, dass sie es nicht gewagt hatte einzuschlafen, denn sobald sie eindöste, tauchte sie in einen Traum ein, der genau so ablief wie ihr Traum nach Adrianas Tod. Diesmal war es jedoch nicht Adriana, sondern Nadia gewesen, die sie aus dem Zugabteil beobachtet, eine Eva beobachtet hatte, die auf dem Bahnsteig stand, den Zug davonrollen sah und spürte, wie sie zur Salzsäule erstarrte, gelähmt von Schuldgefühlen, weil sie zu spät gekommen war, und der Trauer darüber, zurückgelassen zu werden.
Ich blieb in dieser Februarnacht bei Eva. Ich hatte damals gerade keine andere Frau, denn die expansive Natalie hatte ich augenblicklich verlassen, als ich begriff, dass sie mich mindestens genauso hintergangen hatte wie ihren Ehemann, den reichen Libertin. Dass es für Eva und mich eine so schöne Nacht wurde, könnte also daran gelegen haben, dass auch ich aufgestaute Lust und Sehnsucht in mir trug und wir beide lange gedürstet hatten. Aber ich glaube es nicht.
Ich möchte nicht versuchen, diese Nacht eingehender zu schildern, es gibt Momente, die für Worte unerreichbar bleiben. Nur so viel:
Es war kalt geworden, die Fenster waren mit Raureif überzogen, es hatten sich dünne Muster gebildet. Es gab einen Moment, in dem sich Evas Nägel in meinen Rücken bohrten, und in dieser Sekunde war ihr Blick so wie auf dem Bild, das ich seit zehn Jahren in mir trug: Es war ihr Blick in der Sauna von Svartviken. Und in diesem Augenblick erwartete ich tatsächlich, dass Eva das L-Wort aussprechen würde, das für Nadia über ihre Lippen gekommen war. Vielleicht erwartete ich es auch nicht wirklich, aber ich spürte, dass es möglich gewesen wäre, dass es in der Luft lag. Aber Eva sprach es nicht aus. Stattdessen die Dutzenden Kerzen, die in der Wohnung brannten, obwohl wir zwei Flaschen Wein getrunken hatten und
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