Geh nicht einsam in die Nacht
und fuhr fort: »Denn du hast ja wohl nicht die Absicht, auf dem Bau zu bleiben, du bist doch so ein Wunderkind.«
»Jouni beabsichtigt, sich Diebesgut zu widmen«, erklärte Adriana und bekam endlich ihre Revanche für die spitze Bemerkung über ihren Vater.
Jouni lächelte nicht, sondern erwiderte ernst:
»Erst muss ich zum Kommiss. Aber danach will ich an die Uni. Eines Tages bin ich dann ein verdammter Doktor, und dann vergeht euch das Lachen.«
»Wir lachen auch jetzt nicht, Jouni.« Adriana war plötzlich ernst geworden. Sie hatte wie Jouni ihr Abitur vorzeitig gemacht, aber bereits ein Jahr vor ihm: Sie wusste, was es hieß, alles aus sich herauszuholen. »Geh du ruhig auf die Universität«, sagte sie versöhnlich. »Komm zu uns und rette die Seminare in Kunstgeschichte. In denen sitzen nur vornehme Fräuleins, die ihre Hausarbeiten über Schlossgärten und Urnen schreiben wollen.«
»Wenn es da Fräuleins gibt, wie du sagst …«, erwiderte Jouni und lächelte endlich. »Aber Kunst … ich möchte Wirtschaftswissenschaften studieren. Und Politik.«
»Adriana ist kein vornehmes Fräulein«, sagte Ariel. »Sie ist Hullu-Hurmes Exbraut. Und Hullu-Hurme sitzt im Knast.«
»Das ist jetzt fast vier Jahre her«, sagte Adriana. »Und ich bin nie seine Braut gewesen. Nicht auf die Art. Ich habe ihn nichts machen lassen. Wirklich gar nichts.«
Sie lehnte sich vor und stach einen Finger in die Seite ihres entfernten Verwandten: Der Finger traf exakt eine schmale und harte Rippe.
»Und was ist mit dir, Ari?«, erkundigte sie sich. »Was hast du vor? Bist du nie auf die Idee gekommen, dich um einen Studienplatz zu bewerben?«
Ariel wirkte zunächst verlegen, zuckte dann jedoch mit den Schultern.
»Ich bin nicht wie ihr«, meinte er schließlich. »Es hat keinen Sinn, sein ganzes Leben zu planen. Es kann doch alles Mögliche passieren, p-plötzlich hat einem einer das Gehirn weggepustet wie K-K-Kennedy.«
Er warf Adriana einen kurzen Blick zu und fuhr fort:
»Obwohl die Uni … s-stimmt schon. Aber am liebsten würde ich Musik machen. Wenn ich genug Knete zusammen habe, kaufe ich mir eine E-Gitarre.«
»Warum baust du dir nicht einfach eine?«, fragte Jouni. »Die Elektronik kann man separat kaufen. Ich habe einen Verwandten in Tammerfors, der hat das gemacht und ist echt zufrieden. Ich könnte ihn bitten, dir eine zu bauen.«
»Ich weiß nicht …«, widersprach Ariel, »ich möchte mir lieber eine kaufen. Ich will eine Hagström.«
»Diese dämlichen Glitzergitarren!«, schnaubte Jouni. »Was soll denn an denen so toll sein?«
»Die stellen keine G-Glitzergitarren mehr her«, protestierte Ariel. »Hagström hat neue Modelle, es gibt sie in Schwarz und Sunburst, genau wie Gibson und Fender.«
»Hallo, ihr zwei«, sagte Adriana, »könnte ihr mal aufhören mit dem langweiligen Gelaber. Seid ihr eigentlich nie auf die Idee gekommen, dass wir zusammen singen könnten?«
Ariel und Jouni wandten sich um und sahen sie an. Adriana hatte die Abendsonne im Rücken. Sie sahen sie im Gegenlicht, ihr Gesicht war schemenhaft, die Augen lagen im Schatten, sie sahen nur die Konturen von Kinn, Mund und Nase und natürlich die ungekämmten braunen Wuschelhaare, die rot und gold changierten, wenn die Sonnenstrahlen durch sie rieselten.
2
WIE SICH HERAUSSTELLTE , fehlte Elina Manner tatsächlich nichts. Adriana hatte Recht gehabt, der Grund für ihre Magenprobleme war eine Kombination aus zu vielen Tassen pechschwarzem Kaffee und Zukunftssorgen gewesen.
Da war die Sache mit dem Geld. Nach der Währungsreform im Vorjahr war ihr Lohn so erschreckend niedrig geworden. Es kamen einfach keine Summen zusammen, die sie auf der Bank einzahlen oder in ihre Blechdose hätte legen können, in der sie die Haushaltskasse verwahrte. Jouni und Oskari erklärten Elina geduldig, dass ihre Gedanken unausgegoren waren, da diese Veränderung ja für alles galt. Jetzt kostete doch auch alles nur noch ein Hundertstel von dem, was es früher gekostet hatte, das galt nicht nur für Elinas Arbeit, sondern auch für die Miete, die Lebensmittel, Bekleidung, eben alles, was man sich nur denken konnte. Bekam sie im Tuulos jetzt etwa nicht einen Teller Rindfleischsuppe für achtzig Pfennig, der dort früher über 70 Mark gekostet hatte? War ihr nicht aufgefallen, dass man fertige Mäntel für weniger als 20 Mark bekam, während die billigsten Mäntel früher immerhin einiges mehr als 1 500 gekostet hatten? Und die Miete: Auch die betrug nur noch
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