Geh nicht einsam in die Nacht
wir gerade dieses Lied draußen auf Aspholm und in unseren Wohnungen während unserer Studienjahre gehört hatten. Und plötzlich, ich weiß nicht warum, erinnerte ich mich an eine Eva, an die ich lange nicht mehr gedacht hatte und die an einem schmeichelnd warmen Frühlingstag kurz nach Tschernobyl in einem roten Bikini in einer Felsspalte gelegen hatte, ich entsann mich, dass wir geplant hatten, gemeinsam zu verreisen, und im Grunde hatten wir nicht nur eine Zugreise geplant, im Grunde hatten wir die viel längere geplant, die unser Leben war, unser mögliches gemeinsames Leben. Aber weiter kam ich nicht, denn in diesem Moment holte Nadia eine elegante Dissonanz aus ihrer Geige heraus, während die anderen Instrumente in einem leisen Mollakkord zur Ruhe kamen und der Beifall losbrandete.
Nachher gingen wir im Farouge essen. Nadia kam mit, hatte es aber eilig, sie nahm sich ein paar Happen von den Vorspeisen, Hummus und gefüllte Weinblätter und anderes Vegetarisches, und tippte und verschickte regelmäßig kurze SMS . Sie lehnte ein Glas Wein ab, meinte, sie müsse gehen, stand auf und umarmte Eva lange. Anschließend kam sie zu mir, umarmte auch mich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
»Tschüss, Frank, und ein frohes Fest, falls wir uns nicht mehr sehen sollten!«
»Frank kommt Heiligabend vielleicht zu uns«, meinte Eva. Wenn Nadia dabei war, nannte sie mich immer Frank, dabei war es geblieben, seit Nadia sprechen gelernt hatte: »Kapi« war ein Kosename, den Eva nur unter vier Augen und immer seltener benutzte.
»Super!«, sagte Nadia, nahm ihre Jacke und ihren Schal und verschwand zur Tür hinaus.
»Neuer Freund?«, erkundigte ich mich, als wir Nadia die Straße hinablaufen sahen.
»Du hast es erfasst«, antwortete Eva. »Die Sache ist noch ganz frisch.«
»Ich hoffe, er ist gut zu ihr«, sagte ich. »Das mit dem einen Typen hat sie ganz schön fertiggemacht.«
»Olli«, sagte Eva. »Du hast Recht, sie ist sensibel.«
Eva sah mich an und erhob ihr Weinglas, als wollte sie mir zuprosten. Ich griff nach meinem Wasserglas, ohne zu wissen, worauf wir tranken.
»Ich wollte mich nur bedanken«, meinte Eva.
»Und wofür?«
»Dafür, dass du da gewesen bist.«
»Wo denn?«
»Für Nadia.«
»Das bin ich doch gar nicht.«
»Und ob. Ich weiß nicht, ob dir das eigentlich klar ist, aber wenn sie eine etwas stabilere Vaterfigur hatte, dann bist du das gewesen.«
»Aber das stimmt doch überhaupt nicht«, entgegnete ich, immer noch mit erhobenem Glas, wir hatten noch nicht getrunken. »Ich meine, Paul …«
»Es lief nicht besonders gut mit Paul, das weißt du genau«, sagte Eva. »Prost! Auf das Leben in all seiner Unzulänglichkeit!«
Wir sahen uns in die Augen, und ich dachte, dass Eva vielleicht doch Recht haben mochte. Ich sah vor mir, wie ich Nadias Wagen den langen Anstieg in Fågelsången hinaufschob, und erinnerte mich, dass sie auf diesem Anstieg an einem Spätsommertag stehenblieb und ihren ersten Drei-Wort-Satz sprach: Guck da Blume . Ich dachte, dass ich während ihrer Jahre in Schweden keinen einzigen Festtag vergessen hatte. Die Musik, die ich ihr geschickt hatte, mochte zwar nicht die beste und auch nicht die gewesen sein, die Nadia sich gewünscht hatte, aber ich hatte sie nicht vergessen. Und ich dachte daran zurück, wie ich auf Nadias Bettkante gesessen hatte, als der Hausbesetzer Olli sie verlassen hatte und sie nur noch heulend in ihrem Zimmer lag, wie ich versucht hatte, tröstende Worte über das Leben und die Liebe zu finden, zwei Phänomene, auf die ich selbst mich niemals verstanden hatte.
»Na, dann Prost!«, sagte ich, und dann stießen wir mit unseren Gläsern an, und Eva begann plötzlich zu kichern.
»Worüber lachst du?«, fragte ich.
»Ich musste nur daran denken … siehst du dir manchmal Lindy in Finnland sucht den Superstar an?«
»Ich habe ihn nie gesehen. Die Sendung habe ich einmal zufällig gesehen, aber da saß er noch nicht in der Jury.«
»Er wird immer schlimmer«, sagte Eva. »Als hätte er sich vorgenommen, Finnlands Simon Cowell zu werden, er ist so gemein und geschmacklos, es ist nicht zu fassen.«
»Was sagt denn Nadia dazu?«
»Ach, du weißt schon, bei ihrem Freundeskreis … stolz ist sie nicht gerade.«
Die vertrauliche Atmosphäre ließ mich kühn werden. Eva und ich sprachen nie über die Spannung, die es einmal zwischen uns gegeben hatte, und generell nur selten über die Vergangenheit. Dieser Widerwille, der nach Nadias Geburt in Eva
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