Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
Vom Netzwerk:
Taillen und Tops getragen, die so weit ausgeschnitten waren, dass ich wegsehen musste. Aber dann waren Eva und Nadia in eine Wohnung in der Topeliusgatan gezogen, und Nadia hatte auf das nahegelegene Kunstgymnasium gewechselt und erneut den Stil gewechselt. Sie aß kein Fleisch mehr, ging auf Demonstrationen und hatte ihre erste ernsthafte Liebesaffäre mit einem älteren Jungen, der zur Hausbesetzerszene gehörte. Dass Nadia und ihre Freunde weit links standen, erkannte man auch an ihrer Kleidung: Im ganzen Café gab es nicht eine modische Jeans und kein einziges sexy Top, hier sah man ausnahmslos abgewetzte Turnschuhe und abgetragene Jacken aus Second-Hand-Läden und von Trödelmärkten.
    Nach etwa einer Minute des Lieds fiel mir eine Begebenheit aus dem Spätsommer ein.
    An einem glühend heißen Nachmittag war ich auf dem Weg in die Stadt, um mich mit Eva zu treffen. Ich war spät dran gewesen und hatte mich für das Auto entschieden, eine schlechte Idee. Ich blieb an einer Kreuzung in Tölö stecken, an der sich Hunderte Jugendliche unter der Devise Reclaim The Streets mit Transparenten und Gitarren niedergelassen hatten. Die Jugendlichen weigerten sich wegzugehen, und die Polizei benötigte über eine Stunde, um den Verkehr umzuleiten. Ich war nicht der einzige Autofahrer, der mit erhobener Faust drohte und den Demonstranten sarkastische Schimpfwörter an den Kopf warf, und als ich endlich das Carousel erreichte, war ich fast neunzig Minuten zu spät. Eva war in ein Buch vertieft. Ich entschuldigte mich für meine Verspätung und ließ ein paar boshafte Worte über Aktivisten und ihre Methoden fallen. Eva sah mich ruhig an und meinte: »Ist schon okay. Ich hab hier gesessen und gelesen, mir geht es gut. Übrigens glaube ich, dass Nadia bei der Aktion mitmacht.«
    Ich habe nie erfahren, ob Nadia gesehen hat, wie ich in meinem stickigen Auto saß, ihr den Stinkefinger zeigte und sie anschnauzte. Sie sagte nie etwas, sodass ich hoffte, unentdeckt geblieben zu sein. Ich hatte in dem Stau ziemlich weit hinten gestanden.
    Jetzt betrachtete ich die offenen und ernsten Gesichter, die Nadia und den anderen Musikern zugewandt waren, und war seltsam ergriffen. Einige Abende zuvor hatte ich in den Tagebüchern von Nadias verstorbener Tante geblättert, willkürlich in ihnen gelesen, ohne zu wissen, wonach ich suchte, und dabei war mir aufgefallen, wie unverstellt Adriana Mansnerus’ Aufzeichnungen waren, bevor sie verwirrt und krank wurde. Generation auf Generation durchlief den gleichen Prozess, überlegte ich: Man trat mit einem offenen und hungrigen Gesicht ins Leben, ohne Hinterlist, und dann wurden manche verhärmt, während andere wie Adriana, Ariel, Make Everi und Pot-Pesonen untergingen. Als ich diese jungen sitzenden oder stehenden Menschen sah, viele mit geschlossenen Augen, die The Passenger in der Version eines ungewöhnlichen Quartetts lauschten, begriff ich mit entsetzlicher Deutlichkeit, dass sie jedes Recht hatten, wütend zu sein. Nicht allgemein wütend, sondern wütend auf mich, der ich so damit beschäftigt gewesen war, allem und jedem skeptisch gegenüberzustehen, dass ich die Zukunft im Stich gelassen hatte. Nadia und ihre Freunde waren noch extrem verletzlich, es gelang ihnen nicht zu verdrängen, wie bedrohlich und ungerecht, wie schlichtweg lebensgefährlich sie war, diese lärmende und glatte und einen Turbo verlangende Rennbahn von Gesellschaft, an deren Aufbau ich mich beteiligt hatte. Nadia sah und reagierte, genau wie Adriana Mansnerus einst gesehen und reagiert hatte, und ich konnte nur hoffen, dass sie die Unzulänglichkeit und Bösartigkeit der Welt besser ertragen würde als Adriana. Schlagartig wurde mir bewusst, dass Nadia und ihre Freunde wohl Neonröhren werden würden, dass die Zeit vielleicht reif war für eine neue Generation von Neonröhren, und ich dachte, wenn das erforderlich ist, um die Welt zu retten: nur zu. Verstohlen blickte ich zu Eva neben mir und rief mir in Erinnerung, dass Jinx Muhrman einmal behauptet hatte, Eva habe unseren Spitznamen für die Linken der Siebziger geprägt. Falls das stimmte, hatte Eva es wahrscheinlich längst vergessen, denn sie war kein ideologisch denkender Mensch, davor war sie gefeit, wenn man sie mit Politik bewarf, prallte diese einfach an ihr ab. Ich dachte erneut an Eva und mich, wie offen und hungrig unsere Gesichter damals gewesen sein mussten, als wir The Passenger und unsere anderen wichtigen Songs entdeckten, und mir fiel ein, dass

Weitere Kostenlose Bücher