Geh nicht einsam in die Nacht
keine Klage einzubrocken. Bei der Bestattung würdigte Suski mich keines Blicks, und zu Beginn der Trauerfeier begrüßte sie mich mit einem kurzen Handschlag, sah dabei jedoch fort und sagte ein paar freundliche Worte zu einem älteren Verwandten. Ihre Art des Umgangs mit ihrem Vater und ihren Geschwistern wirkte gezwungen, und ich sah, dass sie sich ganz besonders unwohl fühlte, wenn sie mit ihrer älteren Schwester Minna sprach, die man leicht für Suskis Mutter hätte halten können. Und ich sah noch etwas. Obwohl es sich um eine Beerdigung handelte, konnten die anwesenden Männer ihre Augen nicht von Susanna Everi lassen, was nicht nur daran lag, dass sie jünger aussah als ihre fast dreiundvierzig Jahre, sondern auch an dem, was sie ausstrahlte: Macht.
3
Now you’re telling me
You’re not nostalgic
Then give me another word for it
You who are so good with words
And at keeping things vague
Because I need some of that vagueness now
It’s all come back too clearly
Yes I loved you dearly
And if you’re offering me diamonds and rust
I’ve already paid
(J. Baez)
Ich erinnere mich an eine Dezemberwoche, die für mich wichtig wurde. Es war vor ein paar Jahren, anderthalb oder vielleicht auch nur ein halbes Jahr nach Make Everis Tod und meinem Sonntag in Tallinge. Es fällt mir häufig leichter, Dinge zu datieren, die vor zwanzig oder dreißig Jahren passiert sind, als mich jenseits des Jahres 2000 zu orientieren, mein Gedächtnis lässt mich in wirklich heimtückischer und schleichender Weise im Stich.
Zwei Dinge passierten. Als Erstes erhielt Eva – mit vielen Jahren Verspätung – ihren Doktortitel für ihre Arbeit zu Caravaggios Kunst. Sie war die Erste in Finnland, die über ihn geforscht hatte, und Thema ihrer Abhandlung waren einige Besonderheiten in Caravaggios Bearbeitung biblischer Themen und in welcher Beziehung diese Besonderheiten zur Spätrenaissance beziehungsweise zum Barock standen. Ich verstand längst nicht alles, aber genug, um ihre Disputation spannend zu finden. Evas Opponent war ein holländischer Professor, der ausgezeichnet Englisch sprach, und da Eva sich als genauso redegewandt erwies, war ihr Wortgefecht auch für Laien intellektuell stimulierend.
Aber es ging nicht nur um das Thema und die Auseinandersetzung zwischen dem Opponenten und Eva. Es ging um den ganzen Kontext. Es war ein Samstag im Advent, und obwohl die Disputation bereits um zwölf Uhr begann, lag die spätherbstliche Dunkelheit wie eine bleigraue Decke über dem Senatstorget und der vorweihnachtlich dekorierten Alexandersgatan und allen Menschen, die von Geschäft zu Geschäft hetzten. Doch der kühle Hörsaal im alten Hauptgebäude der Universität bildete einen hellen und asketischen Kontrast zur blinden Jagd dort draußen. Da ich ein drop-out war, hatte ich als Erwachsener der Universität und den Akademikern gegenüber stets Angst und Animosität empfunden, merkte nun aber plötzlich, dass ich mich wohlfühlte und der Kontrast zum Kommerz der übrigen Gesellschaft angenehm und erholsam war.
Während ich dort saß, ließ ich meine Gedanken abschweifen. Ab und zu beobachtete ich Nadia, die in der ersten Reihe saß und mit stolzem Blick ihre Mutter betrachtete. Sie waren jetzt nur noch zu zweit. Catherine war ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende gestorben. Die Familie der beiden war von Anfang an klein gewesen und schrumpfte immer weiter.
Die meiste Zeit sah ich natürlich Eva an und muss gestehen, dass ich Caravaggio und das Clair-obscur vergaß und stattdessen an sie und mich und alles, was zwischen uns passiert war, dachte.
Eva stand vorne und verteidigte sich mit Bravour, sie stand dort groß, blond und schlank in ihrem Kostüm, und als ich sie ansah, fiel es mir schwer zu glauben, dass sie tatsächlich fast fünfzig war und so furchtbar viele Jahre vergangen waren, seit wir an der matschigen Haltestelle auf die Linie 49 warteten, während ich versuchte, sie heimlich anzustarren. Ich dachte an die Jahre, die Eva und Nadia in Schweden gelebt hatten, Jahre, in denen sich unser Kontakt auf hastige Mittagessen beschränkte, wenn Eva beruflich in Helsingfors zu tun hatte, auf Cafébesuche im Strindberg und im Kafka, wenn sie Nadia dabeihatte, auf Platten, die ich Nadia zu Weihnachten und Anfang Februar schickte: Erst die Spice Girls und Britney , später Coldplay und HIM, und Maija Vilkkumaa, damit Nadia ihr Finnisch nicht vergaß. Ich besuchte sie in Ängelholm nicht. Evas Ehe hielt sechs Jahre,
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