Geh nicht einsam in die Nacht
U-Bahn-Station und ein Verkehrsknotenpunkt, das wusste Ariel vom Hörensagen, viel mehr allerdings nicht. Er hatte von den Slussen-Finnen gehört, die das Gleiche machten wie er an der Ecke Alberts- und Rödbergsgatan: Sie verkauften illegalen Schnaps zu Wucherpreisen. Ariel kannte Typen, die am Donnerstag die Fähre nach Stockholm nahmen, um das Wochenende über Schnaps zu verticken und am Montag zurückkehren und die ganze Woche auf der faulen Haut liegen zu können. Ihm war allerdings nicht klar gewesen, dass sich das ganze Leben rund um Slussen und in den U-Bahn-Gängen um die Flasche und den Suff drehte. Slussen war ein Ghetto der Verlierer. Es war ein Slum. Für jeden, der noch nicht alle Hoffnung hatte fahren lassen, war der Ort die Hölle auf Erden. Und Ariel hatte bei weitem noch nicht alle Hoffnung fahren lassen. Er war im vergangenen Winter orientierungslos und deprimiert gewesen, das wusste er, und hatte zu viel Apfelkorn und Persiko getrunken und zu viele Preludin eingeschmissen und viel zu viele Joints geraucht. Auf den Hund gekommen war er jedoch nicht, höchstens ein bisschen abgerissen und unkonzentriert. Und dann das! Viele der Dealer verbrachten ihr ganzes Leben an Slussen, sie wohnten dort und schliefen entweder in den wenigen Sträuchern in der näheren Umgebung oder versteckten sich in den Gängen, durch die man zu den U-Bahn- und Bus-Stationen gelangte. Am schlimmsten war der gelbe Gang , eine triefend feuchtkalte Fußgängerunterführung mit Wänden aus gelben Kacheln. Dorthin flohen die Dealer, wenn die Polizei ihre Razzien machte, und in seinen Ecken und Nischen schliefen Männer wie Frauen, die meisten erst zwanzig bis fünfunddreißig Jahre alt, aber mit Gesichtern, die wesentlich älter aussahen.
Nur die Bosse waren in einer besseren Verfassung. Die Männer, die den Handel organisierten, wohnten in richtigen Wohnungen in den Betonvorstädten oder oben auf Södermalm oder in der verfallenen Altstadt, die nur einen Katzensprung von Slussen entfernt lag. Zu ihnen gehörte auch Raikka Hurme, der schnell zu einer Art Stellvertreter unter dem mystischen Dealerboss aufgestiegen war, der unter dem Namen Painija , der Ringer, bekannt war. Pätkä Suhonen hatte es dagegen geschafft, sich innerhalb von zwei Monaten halbtot zu saufen. Als Ariel Suhonen fand, wohnte der in einem verrosteten Simca, den jemand hatte loswerden wollen und deshalb hinter dem Bussteig abgestellt hatte, von dem aus die Busse nach Nacka und Värmdö abgingen. Im Coupet des Simcas roch es ekelerregend nach Urin, saurem Wein und schmutzigen Kleidern, und überall auf den verdreckten Bodenmatten lagen leere Flaschen und löchrige Klamotten, und Ariel lehnte schaudernd den letzten Schluck aus einer Aquavitflasche ab, die Suhonen ihm hinhielt. Er müsse gehen, sagte er stattdessen.
Trotzdem war Ariel auf dem besten Weg, im gleichen Sumpf zu versinken wie die anderen. Die Halbwelt Slussens zog Arbeitsscheue und Verlorene mit unerbittlichem Sog an. Der schwedische Sozialstaat funktionierte gut, so dass man sich problemlos in das System eingliedern und krankschreiben lassen konnte, auf die Art kam man an Geld für Schnaps. Sowohl die Abstinenzbehörde als auch die örtliche Heilsarmee verteilten Essensbons, und diese Bons bekamen die Funktion von Bargeld, denn wenn man pleite war und das Verlangen nach Schnaps größer wurde als der Hunger, konnte man sie verkaufen. Das staatliche Alkoholmonopol wurde System genannt, und die Ansätze des Systems, dem Schwarzhandel Einhalt zu gebieten, ließen sich kinderleicht austricksen. Man brauchte nur kleine Mengen in vielen verschiedenen Läden des Systems zu kaufen. Als Ariel im späten Frühling eintraf, kostete eine zur Nachtzeit verkaufte kleine Flasche je nach Nachfrage zwischen fünfundzwanzig und fünfzig schwedische Kronen, und um den Preis gefeilscht wurde öfter auf Finnisch als auf Schwedisch. Die Slussen-Finnen mochten die auffälligsten und lautesten Finnen sein, waren aber bei weitem nicht die einzigen in der Stadt.
Hullu-Hurme nahm Ariel mit Genugtuung in Empfang und ließ ihn unverzüglich für sich arbeiten. Viele der finnischsprachigen Schwarzhändler beherrschten kein Schwedisch – wenn sie nach dem Preis gefragt wurden, konnten sie höchstens mit finnischem Akzent fünfzig, vierzig oder fünfundzwanzig sagen, während Ariel zweisprachig und somit ein willkommener Neuzugang war. In jenem Frühjahr war die schwedische Hauptstadt außerdem voller Mods und einer noch
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