Geh nicht einsam in die Nacht
gelegenen Hafen Närshamn. Olsson, der in dem Dorf Lau wohnte, hatte ein wesentlich höheres Honorar gefordert als der frühere Schiffer. Der Direktor und der Ringer könnten sich das leisten, erklärte Hurme Ariel, denn diese Reisen seien lukrativ. Das Risiko sei gering und die Gewinnspanne groß, was man nicht nur an der Belohnung für den Schiffer, sondern auch für die Überwacher und Handlanger merke: Es ging um ganz andere Summen als die Kleckerbeträge, die dieselben Männer verdienten, wenn sie in Stockholm Schwarzhandel betrieben und stahlen.
Hullu-Hurme war auf dieser Reise der Vertraute der Bosse und wurde von drei Handlangern begleitet: einem älteren Mann, der Virta hieß und seit dem Kriegsende in Schweden lebte, einem wortkargen Burschen, der Matti Mononen hieß, jedoch in Anspielung auf den Eishockeystar gleichen Nachnamens Leuka , »das Kinn«, genannt wurde, und schließlich Ariel.
Hurme, Virta, Leuka und Ariel nahmen die Fähre nach Visby auf Gotland und setzten sich anschließend mit Leuka als Chauffeur in einen gemieteten Volvo. Sie fuhren an Roma und Ljugarn vorbei und bogen nach Lau ab. Geplant war, dass sie eine Nacht in einem geliehenen Haus wenige Kilometer vom Hafen entfernt übernachten und am Samstag, den 22. Juli ablegen würden, aber die Sache verzögerte sich. Ariel erfuhr nie den Grund dafür. Als er Hurme auf die Verzögerung ansprach, lautete dessen lakonische Antwort: »Befehl aus Stockholm.«
Jedenfalls mussten die vier Männer statt zwölf nun sechsunddreißig Stunden in dem kleinen Haus verbringen. Diese Stunden gaben Virta und Ariel genügend Zeit, sich kennenzulernen, und Virta kam dazu, etwas zu erzählen, was Ariel sehr aufwühlte.
Ariel war fasziniert von Gotland. Er war bis in die Fingerspitzen ein Stadtmensch, vom Leben auf dem Land hatte er keine Ahnung. Während Joni, Ariel & Adrianas kurzer Karriere war er zwar in Stenka Waenerbergs Ford Mercury durch Südfinnland gebraust, aber sie hatten nur an den Würstchenbuden der Kleinstädte und diversen Raststätten gehalten, nie in einem Dorf oder einem Haus auf dem Land übernachtet. Ariel erinnerte sich, dass Lydia ihn einmal – er war damals schon fast ein Jugendlicher gewesen – zu einem Sommerhaus in Esbo westlich von Helsingfors mitgenommen hatte, wo sie eine »Freundin« besuchen wollte. Die Freundin entpuppte sich als ein Mann mit ziemlich eindeutigen Absichten, und Ariel war in den Garten hinter dem Haus geschickt worden. Vor lauter Wut war er ein gutes Stück in den nahegelegenen Wald getrottet und hatte sich verlaufen. Er konnte sich immer noch an die Tiefe des Waldes erinnern, seine Düsternis, die dunklen Baumstämme, das nasse Moos, die Wurzeln umgestürzter Bäume, die im Zwielicht wie wilde Tiere ausgesehen hatten, an den Geruch vermodernder Pilze – es war Ende Oktober –, die verschiedenen Schattierungen von Braun und Gelb, den Wind, der in den Bäumen klagte und sang. Als er erkannte, dass er nicht mehr wusste, wo er war, hatte er Angst bekommen, kehrt gemacht und war in seinen eigenen Fußspuren losgerannt, hatte sich verlaufen, war mindestens drei Mal am selben Steinhaufen vorbeigekommen, die Dämmerung hatte eingesetzt, und er hatte vor Furcht fast geschluchzt – da hatte er plötzlich, wie durch ein Wunder, gesehen, dass es vor ihm heller, der Wald lichter wurde, und war wieder auf freies Feld gelangt, und hinter dem Feld lagen das kleine Dorf und der Garten und das Frontsoldatenhaus, und weil er so exaltiert über seine eigene Rückkehr war, hatte er vergessen, dass er nicht ins Haus gehen durfte. Er war eingetreten, ohne vorher anzuklopfen, und Lydia hatte sich gerade angezogen, sie hatte einen Fuß auf die Bettkante gesetzt und befestigte ihr Strumpfband, er erinnerte sich bis heute, wie ihr rechter Oberschenkel aussah, wenn er bebte. Sie hatte ihn nicht unfreundlich, eher zerstreut und mit glasigen Augen angesehen und gesagt: »Da bist du ja, mein Junge, hat es Spaß gemacht?«
Seither hatte Ariel jeden Wald gemieden, aber auf Gotland gab es keine Wälder, nur Felder und Weiden und Heide, ausgedehnte trockene Hochebenen, auf denen knorrige Kiefern und dichte Wacholderbüsche wuchsen. Auf den Heideflächen standen Schafe und Pferde und grasten. Immer wieder fuhren sie durch verschlafene Dörfer, und in jedem Dorf stand eine helle Kalksteinkirche, die aussah, als hätte sie dort seit Jahrtausenden gestanden und Staub angesetzt. Und das Meer war nie weit entfernt, man ahnte es, obwohl man
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