Geheime Macht
Kriegergestalt. Sie war noch nie die Stärkste gewesen. Nein, sie kläffte lieber am Spielfeldrand und hackte auf Schwächeren herum. Aber das alles änderte nichts.
»Hat diese Frau dir etwas Böses angetan?«, fragte Roman.
»Diese Frau hat mich und meine Mutter gefoltert.«
Roman zuckte mit den Schultern. »Wenn du sie erledigen willst, mach es schnell. Ich werde für dich am Eingang Wache halten.«
Er war fort. Jetzt war ich ganz allein mit Michelles blasser, weicher Kehle. Die Welt war rot. So rot, und jedes Mal, wenn ich ausatmete, wurde sie zorniger und das Rot wurde intensiver.
Raphaels Hand lag auf meiner Schulter. Seine Finger streichelten mein Fell. »Du hast das Recht dazu. Es würde sich gut anfühlen.«
Es würde sich großartig anfühlen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wie großartig es wäre. Ich wollte ihm sagen, dass ich sie endlich erwischt hatte. Ich hatte Raphael schon einmal von ihr erzählt. Jetzt wollte ich ihm sagen, wie sehr ich mir wünschte, sie zu zerreißen, doch ich brachte nicht mehr als ein Knurren zustande.
»Ich kenne dich.« Raphael legte die Arme um mich, und er sprach mit beruhigender Stimme an meinem Ohr. »Wenn du sie vor ihren Kindern tötest, wird es dich für den Rest deines Lebens verfolgen. Lass sie los. Lass sie einfach gehen.«
Nein! Sie durfte nicht einfach so davonkommen. Nein! Alle anderen hatten bezahlt, also musste auch sie bezahlen.
Mein verletzter Arm schmerzte. Die Wunde war noch so frisch.
Sie würde bezahlen. Dieser schwache, grausame menschliche Abschaum. Dieses Stück Scheiße, das meine Kindheit zerstört hatte. Sie war der Grund, warum ich mit dem verdammten Fleischermesser in der Hand aufgewacht war. Sie war der Grund, warum Doolittle meinen Arm mit einer Säge malträtieren musste. Sie würde bezahlen!
»Lass sie los, Schatz. Lass sie gehen, Andi. Um deinetwillen. Für mich. Für uns alle.« Raphael küsste mein Fell knapp unter dem Ohr. »Lass sie los.«
Ich wollte im Rot versinken. Ich wollte ihr Blut auf meinen Händen sehen. Aber seine Stimme hielt mich zurück.
»Tritt zurück«, sagte er. »Ihre Kinder schauen zu. Tritt zurück, Schatz.«
Ich hörte einen hellen Laut, und ich erkannte, dass es der kleine Junge war, der in hysterischer Angst heulte. Seine Schwester schluchzte.
»Du bist besser, Andi. Tu das Richtige. Lass sie einfach los.«
Während ich meine Finger zwang, sich zu öffnen, brachen der Schmerz meiner Erinnerungen und all meine Frustration in einem scharfen, kurzen Schrei aus mir heraus. Ich wirbelte herum und entfernte mich. Ich ging zur gegenüberliegenden Wand, so weit weg von ihr wie möglich.
»Sie ist ein Tierabkömmling«, keuchte Michelle. »Sie ist …«
»Sie ist die Beta des Clans und meine Partnerin«, sagte Raphael.
Michelle taumelte zurück, als hätte er sie geschlagen.
Raphaels Augen waren zwei rot glühende Kohlen. »Dein Aufnahmeantrag in den Clan ist abgelehnt. Nimm deine Familie und geh. Wenn du dich bis Sonnenuntergang immer noch auf meinem Territorium aufhältst, werde ich dich jagen und vor das Clangericht schleifen, wo man dich wegen Folter, Misshandlung eines Kindes und aller anderen Dinge anklagen wird, die unsere Anwälte dir zur Last legen können. Man wird dich verurteilen, du wirst leiden, und man wird dich exekutieren. Deine Kinder werden zu Mündeln des Rudels, und sie werden deinen Namen verachten, wenn sie das Erwachsenenalter erreicht haben.«
Michelle hob ihren Ehemann vom Boden auf, ihre Tochter griff sich den Jungen, dann rannten sie hinaus.
Raphael kam zu mir und umarmte mich.
Meine Wut brach in gequälten Schluchzern aus mir hervor. Ich hatte Tränen in den Augen. »Ich hatte sie.«
»Ich weiß.«
»In meinen Händen.«
»Ich liebe dich«, flüsterte er. »Ich liebe dich, ich bin stolz auf dich. Du hast das Richtige getan.«
»Nein!« Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Ich war nicht traurig, ich konnte es nur einfach nicht zurückhalten. »Sie sollte tot sein. Das wäre das Richtige gewesen.«
»Für sie, aber nicht für dich. So bist du nicht. Es würde dich zerfressen.«
Ich brach zusammen und heulte. Damals hatte ich gelernt, nicht zu weinen, denn je mehr ich weinte, desto mehr stachelte es sie an. Aber jetzt konnte ich weinen. Niemand würde mich aufhalten, also hockte ich auf dem Boden und ließ alles aus mir herausströmen, während Raphael mich hielt und mir beruhigenden, liebevollen Unsinn ins Ohr flüsterte.
Ich konnte Michelle nicht töten. Ich konnte
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