Geheimnis des Verlangens
hoffte, diese Männer hatten nichts mit demjenigen zu tun, der in Danzig versucht hatte, sie zu töten. Und da sie sie nicht auf der Stelle getötet hatten, war diese Hoffnung jetzt sehr stark. Aber falls es Wegelagerer waren, warum raubten sie sie nicht einfach aus und verschwanden wieder? Warum sollten sie sie mitnehmen?
Sie sahen nicht anders aus als die Leute, die sie während der vergangenen paar Tage in diesem Teil des Landes gesehen hatte, dunkle Haare, dunkle Augen, ein tiefbrauner Teint, und der einzige Unterschied zwischen ihnen lag in ihrer Größe. Einer war nicht größer als Tanya, der zweite konnte vielleicht ein paar Zoll mehr aufweisen, der dritte jedoch war ausgesprochen groß. Ihre Kleider unterschieden sich ein wenig von den anderen, die sie in dieser Gegend gesehen hatte. Überhaupt schien ihre ganze Ausstattung mehr dem Reiten zu dienen: dicke Hosen, hohe Schnürstiefel aus weichem Leder, kurze Jacken aus Schafsfell, bei denen der Pelz auf der Innenseite des Kleidungsstückes saß, und darunter trugen sie Wollhemden, die von breiten Stoffgürteln zusammengehalten wurden. Außerdem trugen sie alle bunte, helle Schultertücher, die eng am Hals zusammengebunden waren, und struppige Pelzhüte. Wenn sie irgendwelche Waffen bei sich hatten, konnte man sie jedenfalls nicht sehen, aber zweifellos war das auch ihre Absicht.
Stefan hatte eine sanft ansteigende Route in südöstlicher Richtung gewählt. Diese Männer ritten direkt nach Süden, direkt in die Karpaten hinein. Und sie ritten, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sie machten am Abend nur eine einzige Pause auf irgendeinem entlegenen Gehöft, wo sie ihre völlig erschöpften Ponys gegen ausgeruhte eintauschten. Straßen mieden sie vollkommen, und sie schienen jeden einzelnen Schleichweg durch Wälder und Hügel genauestens zu kennen. Sie machten nicht einmal halt, um zu essen, sondern kauten auf altbackenen Brotkrusten herum, die jeder von ihnen bei sich trug.
Irgendwann am Mittag des folgenden Tages erreichten sie ihr Ziel, nachdem sie die ganze Nacht durchgeritten waren. Es sah aus wie ein typisches Dorf, wenn man einmal davon absah, dass es hoch in den Bergen lag und nur über einen Weg erreicht werden konnte, von dem Tanya mit Sicherheit annahm, dass kein anderes Tier ihn bewältigen konnte als diese kleinen Ponys.
Sie war mittlerweile am Ende ihrer Kräfte, denn sie hatte nicht mehr Schlaf bekommen als ihre Entführer. Sie war fast zu müde, um sich darum zu kümmern, was als nächstes geschah. Aber sie war eindeutig dankbar für die Wärme des Hauses, in das sie hineingezerrt wurde.
Es war ein Blockhaus, mit nur einem großen Zimmer. Tanya ging ohne zu Zögern auf den Lehmofen in der Mitte des Zimmers zu, sobald man sie losgelassen hatte. Als erstes fiel ihr auf, wie vollgestopft das Zimmer war, mit groben Möbelstücken und den Trümmern eines ganzen Lebens. Erst danach fiel ihr Blick auf den Mann, der am Tisch saß und aß; er hatte nicht einmal aufgesehen angesichts dieser Störung. Er war groß, in mittleren Jahren, mit den verhärteten Gesichtszügen eines Menschen, der kein leichtes Leben gehabt hatte.
Einer der Männer warf einen Geldbeutel vor ihm auf den Tisch und gab eine langatmige Erklärung ab. Tanya versuchte erst gar nicht, irgend etwas davon zu verstehen. Statt dessen warf sie einen sehnsüchtigen Blick auf die vielen Pritschen, die überall herumstanden, und fragte sich, ob irgend jemand wohl etwas dagegen haben würde, wenn sie eine davon benutzte; sie wollte sich andererseits aber auch noch nicht vom Feuer entfernen. Sie war bis auf die Knochen durchgefroren, trotz des langen, grauen Umhangs, den sie trug. Hinzu kam, dass sie an solche Winter überhaupt nicht gewöhnt war, und es war auch immer kälter geworden, je höher sie in die Berge hinaufgestiegen waren.
Endlich bemerkte sje die Stille, die plötzlich herrschte, und schielte vorsichtig zu dem Tisch hin, an dem jetzt nur noch der ältere Mann saß. Die anderen drei waren verschwunden. Er hatte sie eine ganze Weile beobachtet, während er sein Mahl beendete. Er schien jedoch nicht geneigt, irgend etwas zu sagen.
Tanya beschloss dennoch, ihr Glück zu versuchen. »Ich nehme nicht an, dass Ihr Englisch sprecht?«
»Englisch«, sagte er angewidert. »Ich kenne vier Sprachen gut, drei nicht so gut. Mein Englisch ist nicht so gut.«
»Gut genug«, sagte Tanya erleichtert. Sie selbst hatte ein paar Brocken Französisch und Spanisch aufgeschnappt, aber sie
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