Geheimnis Um Mitternacht
anderen jungen Frauen durchaus willens, ihre Freiheit für die Aussicht, Countess zu werden, aufzugeben. Und Irene hoffte natürlich, wie sie sich in Erinnerung rief, dass der Earl seine Aufmerksamkeit auf eine andere richtete. Aber sie war ehrlich genug, zuzugeben, dass es nicht erfreulich wäre, so deutlich bewiesen zu bekommen, dass sie in Lord Radbournes Augen nichts Besonderes war und dass eine andere Frau ihren Zweck für ihn genauso erfüllen würde.
Sie sagte sich, dass es absurd sei, deswegen auch nur den kleinsten Hauch von Unbehagen zu verspüren. Denn dass der Earl sein Werben um sie fortsetzte, wollte sie ganz sicher nicht. Zudem würde ihr Besuch dann viel angenehmer verlaufen. Und sie war ganz sicher kein Mensch, der einem anderen etwas missgönnte, wenn er es selbst nicht einmal haben wollte. Ihrem Stolz würde es vielleicht einen Stich versetzen, aber das wäre schnell vorbei. Es wäre wirklich eine enorme Erleichterung, wenn er sie nicht mehr belästigen würde.
Zusammen mit ihrer schweren altertümlichen Kutsche hatte Lady Odelia auch ihren betagten Kutscher geschickt, sodass die Reise nur langsam vonstatten ging. Doch das störte Irene nicht. Francesca war eine unterhaltsame Begleiterin, und ihre Mutter hatte, dem Einfluss ihrer überkritischen Schwiegertochter entkommen, glücklich geplaudert und gelacht, bis sie eingeschlafen war, sodass die Zeit schnell verging. Und wenn sie schwiegen, hatte Irene genug im Kopf, was sie beschäftigte. Es machte ihr Freude, die vorüberziehende Landschaft anzusehen, denn auf diese Weise war sie noch nie gereist. Und sie war es auch nicht gewohnt, in Gasthöfen zu übernachten, da die meisten ihrer Reisen, beispielsweise von dem Landsitz ihrer Familie nach London, nicht länger als einen Tag gedauert hatten. Es war eine wundervolle neue Erfahrung für sie, und sie hatte vor, sie zu genießen.
Nun, da sie ihrem Ziel näher kamen, wurden ihre Neugier und Aufregung größer. Von Zeit und Zeit schob sie den Vorhang zur Seite, in der Hoffnung, einen Blick auf Radbourne Park zu erhaschen. Doch außer der hohen Hecke, die die schmale Straße, auf der sie fuhren, begrenzte, sah sie nichts. Die Kutsche bog in einen anderen Weg ab, enger und weniger befahren, und Irene schob wieder die Vorhänge beiseite und warf einen Blick hinaus, da sie vermutete, dass sie in die Zufahrt zum Haus eingebogen waren.
Sie kamen an einem kleinen Cottage vorbei, doch kurz danach folgte ein Waldstück, und sie waren auf beiden Seiten von hohen Bäumen umgeben, deren Äste sich über der Kutsche wölbten. Sie ratterten weiter und überquerten eine Steinbrücke über einem Fluss. Einen Moment später kam die Kutsche wieder aus dem Waldstück heraus.
Ungeniert steckte Irene den Kopf aus dem Fenster, um einen ersten Blick auf das Haus zu erhaschen. Vor ihnen lag eine weite, leicht ansteigende Fläche grünen Rasens, nur durchschnitten von einem Weg, der sich hinauf zum Haus schlängelte. Das Haus selbst lag auf dem höchsten Punkt des Hügels, allein in seiner ganzen Pracht, ohne Bäume oder Büsche davor oder an den Seiten, um seine strengen Linien abzumildern.
Irene zog die Luft ein. „Oh ..."
Es war nicht das größte Haus, das sie je gesehen hatte, aber es war auf seine eigene Art das beeindruckendste. Der mittlere Teil, ein prächtiges Torhaus, war vier Stockwerke hoch und hatte an beiden Enden jeweils einen runden Turm, der sich zwei weitere Geschosse in die Höhe streckte. Der Rest des Hauses lag drei Etagen hoch zu beiden Seiten der Türme in zwei Flügeln mit Dachgauben. Das gesamte Gebäude war aus rotem Backstein erbaut, dessen Schattierungen von Abschnitt zu Abschnitt variierten. Die Ornamente auf den Türmen waren genau wie die Einfassungen der Fenster aus Terrakotta. Die tief am Nachmittagshimmel stehende bleiche Herbstsonne glitzerte auf den mehrflügeligen Fenstern, warf Schatten neben die Türme und trug so zu dem majestätischen Eindruck des Hauses bei.
Sowohl Irenes Mutter, die von sich aus aufgewacht war, als auch Francesca beugten sich hinüber, um sich an den Kutschenfenstern zu ihr zu gesellen, und Lady Ciaire entfuhr ein leiser Laut der Bewunderung.
„Offensichtlich hält die Familie Bankes recht viel von sich", bemerkte Francesca mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Es ist... Nun, ich bin mir nicht sicher, was das richtige Wort dafür ist", sagte Irene, ihr Blick noch immer auf das Haus gerichtet. „Es ist nicht das, was ich schön nennen würde, aber es ist ganz
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