Geheimnisvoll Vertrauter Fremder - Historical Bd 274
seiner Nähe gewöhnt hatte?
Die meisten Frauen, die er kennengelernt hatte, waren begierig darauf gewesen, ihm in die Arme zu sinken. Aber noch nie hatte er eine Frau so heftig begehrt – wie jetzt seine Frau. All zu oft war er es gewesen, der die Gesellschaft, die ihm von einer Dame angeboten worden war, abgelehnt hatte. Zu sehr hatte er sich auf sein großes Ziel konzentriert, da wollte er sich keineswegs mit einer Liebesaffäre belasten. Die Begleiterinnen, die er ausgewählt hatte, zeigten zum Glück großes Verständnis dafür, dass er sie meist schnell wieder verließ.
Er zog nach dem Bad venezianische Kniehosen an, dazu passende Strümpfe und ein schwarzes Wams, dessen Schlitze mit Silberstoff unterlegt waren. Die hängenden Ärmel wurden mit Silberbändern an den Schultern befestigt. Lorenzo sah in dieser Kleidung wie ein echter Aristokrat aus. Sein Haar war länger als gewöhnlich, da es seit Monaten nicht mehr geschnitten worden war, und es fiel ihm in Locken auf die Schultern. Seine Haut war tiefbraun. Er blickte sein Bild im Spiegel an und fragte sich, wie so oft, wer er wirklich war. Für einen kurzen Moment glitten seine Finger zu den Lederarmbändern, denn er spürte das gewohnte Unbehagen. Das Einzige, was er mit Sicherheit wusste, war, dass er von dem Korsaren Rachid geraubt und als Sklave gehalten worden war, an ein Ruder gekettet, bis man ihn dem Tod überlassen hatte. Doch er musste auch vor jenem Tag ein Leben gehabt haben, eine Familie, Freunde … vielleicht sogar eine Liebste.
In der letzten Zeit waren ihm keine Erinnerungen mehr gekommen. Es schien, als wäre der Vorhang wieder gefallen. Die Vergangenheit war dadurch ausgeschlossen. Doch das war nicht wichtig – er wusste, dass er Lorenzo Santorini war, der Besitzer einer Flotte von Galeeren, und seine Mission war es, seinen Feind und andere Übeltäter zu zerstören.
Doch war er sich seiner Sache so sicher wie früher? Lorenzo versuchte den Wandel zu verstehen, der in ihm vorgegangen war, als er in die verängstigten Augen jenes Knaben geblickt hatte. Wäre es Rachid selbst gewesen, so hätte er nicht gezögert, ihn zu töten – oder etwa doch?
Er fluchte leise, als ihm bewusst wurde, dass er dies nicht mehr bestimmt sagen konnte. Er hatte lange von seinem Hass gezehrt. Dieser Hass war für ihn lebensnotwendig geworden, denn was blieb ihm ohne dieses Gefühl noch?
Die Antwort war erschreckend und passte so gar nicht zu allem, was er je gewesen war und geglaubt hatte, dass er sie nicht akzeptieren konnte. Träume von einer Frau und einer Familie standen ihm nicht zu. Es würde ihn von seiner Mission abbringen, ihn vergessen lassen, was ihn zu dem Mann gemacht hatte, der er war – er würde dadurch ein anderer werden.
Das war doch sicherlich nicht das, was er wollte? Ihm wurde klar, dass er es ganz einfach nicht wusste. Er wusste nicht mehr, wer er wirklich war.
Kathryn hatte ein smaragdgrünes Kleid angezogen, das die Farbe ihres Haares unterstrich und ihre Augen leuchten ließ. Sie besaß nur eine schlichte Perlenkette, die ihr Vater ihr vor ihrer Abreise aus England zum Geburtstag geschenkt hatte. Aber sie trug sie voller Stolz, ohne zu ahnen, dass Schönheit wie die ihre keine Hilfsmittel benötigte.
„Du siehst wunderschön aus, Kathryn“, sagte Lorenzo, als er sie erblickte. Sie stand in einem der offenen Torbögen, durch die man in einen gepflasterten Hof kam. Ihr Gesicht wirkte nachdenklich und vielleicht ein bisschen traurig. „Woran denkst du, Madonna?“
„Es ist so ein herrlicher Abend. Ich dachte an meine Heimat und an meinen Vater.“
„Hast du ihm geschrieben?“
Kathryn wandte sich um und blickte ihn an. „Ich schickte ihm einen Brief, als wir Venedig erreichten, doch im Augenblick ist es wohl besser, wenn ich ihm keine Botschaften mehr zukommen lasse. Solange wir nicht mehr über den Verbleib unserer Freunde wissen, möchte ich ihn nicht ängstigen.“
„Glaubst du nicht, du solltest ihm von deiner Vermählung erzählen?“
„Vielleicht.“ Kathryn trat einen Schritt auf ihn zu. „Lorenzo …“
Sie zögerte, als ein Diener zu ihnen trat, um zu sagen, dass das Essen serviert sei.
„Du bist sicher hungrig nach der langen Reise?“
„Ja“, bestätigte er. „Lass uns die Mahlzeit einnehmen, Kathryn. Wir haben noch den ganzen Abend Zeit, um über alles zu reden.“
Wieder spürte sie die Unruhe in sich, als sie den Blick in seinen Augen sah. All die vergangenen Wochen hatte sie versucht sich
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