Geheimnisvolle Beruehrung
begabten und besonders gefährdeten V-Medialen zu entwickeln. »Faiths Verschwinden hat uns gelehrt, wie falsch es war, alle Regeln zu befolgen, die Silentium uns auferlegt.«
Leon trank einen Schluck des Energieshakes, den er für sie beide zubereitet hatte. »Als Mediziner habe ich wirklich geglaubt, mit Silentium würden wir das Risiko von geistigen Erkrankungen mindern. Anthony war auch davon überzeugt. Deshalb hat er überhaupt gestattet, dass Faith in Silentium erzogen wurde. Als wir herausfanden, dass wir sie – und viele andere V-Mediale – womöglich gerade damit in den Wahnsinn getrieben haben, den wir doch zu verhindern versuchten, hat es die ganze Familie in ihren Grundfesten erschüttert.«
Sahara vertraute ihrem Vater wie niemandem sonst. Im Herzen war er ein Heiler, hatte sich schon lange verpflichtet, ärztliche Verordnungen »zu niemandes Schaden anzuwenden«, wie es im Text des Eides auf der Tafel in seinem Büro stand. »Ich habe dich so vermisst«, sagte sie, und Grimm schoss in ihr hoch. »Mir ist so viel genommen worden.«
»Du hast noch dein ganzes Leben vor dir«, sagte ihr Vater und nahm ihre Hand in seine. »Und du hast einen Vater und auch die Unterstützung deines Clans.«
Sie sah auf seine sommersprossige Haut. Ihr Vater hatte sie schon immer beiläufig berührt, erst recht, nachdem ihre verborgene Gabe ans Licht gekommen war. Nie hatte er sie wie eine Aussätzige behandelt, und dadurch war es ihr gelungen, ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren. Verwundert fiel ihr ein, dass auch Kaleb ihre Berührungen nie abgewehrt hatte, obwohl ihm das Risiko immer bewusst gewesen sein musste.
Tu das nicht. Du wirst es bereuen.
Niemals.
Ihre Antwort war stets dieselbe, heute wie damals, doch bei Tageslicht betrachtet, mutete die Heftigkeit ihrer Verweigerung wie ein Wunder an. Nicht ein einziges Mal hatte sie daran gedacht, ihre Fähigkeit gegen ihn zu wenden, obwohl das Machtgleichgewicht zwischen ihnen dadurch grundlegend verändert worden wäre. Schon allein bei der Vorstellung wurde ihr übel.
»Was ist mit deinen Erinnerungen?«, fragte ihr Vater. »Sind sie sehr zerstört? Es gibt telepathische Mediziner, die …«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Ich will niemanden in meinem Kopf haben.« Ihr Vater nickte verständnisvoll, und sie fügte schnell hinzu: »Und ich erinnere mich auch schon beinahe wieder an alles.« Das war eine Lüge, aber sie konnte ihm nicht sagen, dass ein großes, vielleicht sogar das wichtigste Stück fehlte.
Ein Stück namens Kaleb.
Stunden später gaben sie ihrer Müdigkeit nach. In ihrem Schlafzimmer fand Sahara eine Kiste mit Kleidung, die Kaleb teleportiert hatte, sowie ein Handy, in dem alle Nummern eingespeichert waren, auf denen sie ihn direkt erreichen konnte.
»Danke«, flüsterte sie.
Sie schlüpfte in ein T-Shirt, das obenauf lag, und legte sich in ihr altes Bett. Ihr Schlaf war traumlos, und sie erwachte am nächsten Morgen erfrischt und bereit, dem Clan gegenüberzutreten. Nach dem Frühstück ging sie mit ihrem Vater zu Anthony. Auf dem Hauptgelände des NightStar-Unternehmens, dessen Gebäude sich perfekt der Landschaft anpassten, hatte es stets mehr zum Verweilen einladende begrünte Plätze gegeben als bei Medialen sonst üblich, doch in der Zeit ihrer Gefangenschaft waren noch weitere und auch Schatten spendende Bäume hinzugekommen.
Die Vorbeigehenden machten große Augen – das Erstaunen über ihre Anwesenheit war zu groß, um unterdrückt zu werden, aber niemand hielt sie auf. Vor Anthonys Büro winkte sie eine ältere Dame, die Sahara noch von früher kannte, kommentarlos herein. Das Oberhaupt des Clans mit den silbernen Schläfen im dunklen Haar kam auf sie zu und musterte sie aufmerksam.
»Leon.« Er nickte seinem jüngeren Halbbruder zu und wandte sich dann an Sahara. »Du siehst gut aus.«
Das entsprach der Wahrheit. Dank der Pflege des gefährlichsten Kardinalmedialen im Netz war sie zwar schlank, aber nicht mehr abgezehrt durch die lange Gefangenschaft. Sie wusste aber, dass Anthonys erstes Interesse nicht ihrer körperlichen Gesundheit galt. »Ich weiß nicht, ob mein Retter mir Tendenzen zum Verrat eingepflanzt hat, doch ich glaube es eher nicht.« Kaleb hatte es nicht nötig, sie auf diese Weise zu kontrollieren. Und: »Mit meiner Gabe hätte ich einen solchen Eingriff auch sofort bemerkt.«
»Hat dein Retter einen Namen?«
Sie nannte ihn ihm, ihren Vater hatte sie bereits eingeweiht.
»Verstehe.« Anthony setzte sich
Weitere Kostenlose Bücher