Geheimnummer. Kein Sex nach Plan
Oberkörper so weit vor, wie es ging, ohne absturzgefährdet zu sein. Das war mit meinem dicken Bauch gar nicht mehr so einfach, mein Körperschwerpunkt hatte sich doch deutlich nach vorne verlagert. Endlich sah ich sie. Zwar nicht an Schläuchen angeschlossen, aber ihr linkes Bein hing in einer merkwürdigen Konstruktion. Der Rest ihres Körpers schien einwandfrei zu funktionieren, denn sie trank den Kaffee, den Tim ihr geholt hatte, und redete gleichzeitig mit ausschweifenden Armbewegungen auf ihn ein. Zum Glück drehte er mir dabei den Rücken zu.
Tina lebte und quasselte also wie eh und je. Gott sei Dank. Eigentlich hatte ich genug gesehen, aber jetzt war meine Neugier geweckt. Ich sah die beiden zum ersten Mal allein zusammen, wenn man Tinas Zimmernachbarin mal außen vor ließ, und ich konnte nicht gehen, bevor ich es nicht endlich mit eigenen Augen gesehen hatte. Einen Kuss vielleicht oder eine Geste, die mehr bedeutete als Freundschaft. Normalerweise war ich nicht sehr masochistisch veranlagt, aber ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wie die beiden als Paar aussehen würden. Ich konnte es mir nicht vorstellen, obwohl sie theoretisch besser zusammenpassten als Tim und ich. Tina war groß und schlank, eigentlich eher mager, und legte sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Sie wechselte fast monatlich ihre Haarfarbe und gab bei einem einzigen Shoppingmarathon so viel Geld für Klamotten aus wie ich für meinen ersten eigenen Gebrauchtwagen. Tim war auch ziemlich eitel und markenorientiert und hatte sich erst durch mich ein wenig »gehen lassen«, wie Tina mir immer vorwarf. Im Gegensatz zu Tina war Tim ein ruhiger Typ und konnte ihrem manchmal an Hysterie grenzenden Unternehmungswahn den Wind aus den Segeln nehmen. Tina liebte es, zu organisieren und zu kommandieren, Tim ließ sich gern etwas sagen. Sie waren wie füreinander gemacht, aber ein Kuss, geschweige denn Sex zwischen ihnen war für mich schlichtweg unvorstellbar.
Meine Arme wurden langsam schwer. Mein Bauch zog nach unten. Aber ich war viel zu neugierig, um jetzt schon zurückzuklettern. Endlich kam etwas Bewegung in die Sache. Tim nahm Tina den Kaffeebecher ab – und schmiss ihn weg. Aha. Sehr aufschlussreich. Dann schien er sich von ihr zu verabschieden. Er hob kurz seine Hand, ging zur Tür und zog sie vorsichtig hinter sich zu. Das war’s. Kein Kuss, nicht einmal ein Schmatzer. Ich war baff. Nein, ich war erleichtert, auch wenn ich für meine Mühen eigentlich eine bessere Show hätte verlangen können. Was sollte das denn bitte schön für eine Affäre sein? Hatten sie etwa Angst vor der Oma, die im anderen Bett vor sich hin schnarchte? Wohl kaum.
Nachdenklich kletterte ich wieder zurück auf den Balkon. Ich wartete, bis Tim um die Ecke gebogen war, bevor ich es wagte, mein Versteck zu verlassen. Das heißt, ich wollte es verlassen. Nur leider hatte jemand die Balkontür zugemacht, was mir an einem kalten, regnerischen Neujahrstag etwas übertrieben vorkam. Ich saß fest. Zaghaft klopfte ich gegen die Balkontür, aber der Flur war leer. Ausgezeichnet. Welcher kälteempfindliche Blödmann auch immer diese Tür zugemacht hatte, er hätte wenigstens vorher nachschauen können, ob jemand am Geländer hing und in fremde Zimmer spähte. Wenn ich jetzt an Tinas Fenster klopfte, würde sie sofort wissen, dass ich sie mit Tim beobachtet hatte. Aber was blieb mir anderes übrig? Außerdem wurde mir langsam kalt. Ich spürte kaum noch meine Finger, die fast an den eiskalten Eisenstangen festgefroren waren, und inzwischen regnete es wieder. Ich kletterte also erneut über das Geländer, beugte mich noch weiter vor und klopfte gegen das Fenster. Tina blickte auf. Ich winkte ihr zu. Erschrocken sah sie mich an und weckte die dösende Oma, da sie selbst nicht aufstehen konnte. Die Oma sah mich noch erschrockener an, öffnete aber gehorsam das Fenster, als Tina sie dazu aufforderte. Eigentlich hätte ich lieber die Balkontür benutzt, aber offensichtlich wurden meine Zeichen falsch gedeutet, da ich sprungbereit auf dieser Seite des Geländers hing.
Ich hielt mich also mit der linken Hand am Fensterrahmen fest, schwang mein Bein über die Fensterbank – und war drin.
»Karina, bist du verrückt? So schwanger da draußen rumzuturnen? Kannst du nicht wie jeder normale Mensch durch die Tür kommen?«
»Wie geht es dir? Was ist passiert?«, ignorierte ich einfach Tinas Fragen, während ich versuchte, wieder Leben in meine vereisten Finger zu
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