Gehetzt - Thriller
Isolationszelle geschleppt worden war. Es dröhnte in ihren Ohren, hallte wider, schepperte in ihrem Kopf, eine düstere Erinnerung. Aber das hier war jetzt, es geschah wirklich. Sie hätte mit Diane abhauen sollen, hätte aussteigen sollen, als sie noch konnte.
Gail saß in ihrem Schlafwagenabteil und hatte Angst, sich zu rühren, Angst zu atmen.
Hatte Angst, die Nächste zu sein.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie so saß. Wie viel Zeit verstrich.
Die Geräusche verebbten, verschwanden ganz. Sie stand
auf, zog die Jalousie hoch, presste ihre Wange an die Fensterscheibe und versuchte zu erkennen, was los war. Sie erhaschte einen Blick auf die Polizisten auf dem Bahnsteig; sie hatten einen Typen in Handschellen zwischen sich. Ginger folgte dem Trio mit entschlossen wedelndem Schwanz, dann verschwanden sie aus Gails eingeschränktem Blickfeld.
Gail stieß einen Seufzer aus und ließ sich auf ihren Sitz plumpsen. Warte. Sitz einfach nur da, versuch, dich zu beruhigen und warte ab.
Eine halbe Ewigkeit später hörte sie das Dröhnen der Zugmotoren und spürte die Vibrationen unter sich. Gott sei Dank. Und jetzt fahr los. Bloß weg von hier.
Ein Klopfen an der Tür ihres Abteils ließ sie ruckartig hochschnellen. Sie machte in der Mitte des klei nen Schlafwagenabteils eine Dreihundertsechziggrad-Drehung und starrte hilflos auf das robuste, dicke Plexiglasfenster. Die Wände drehten sich um sie, sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Gail wusste, wer draußen stand: Männer in Uniformen. Männer mit Pistolen. Für den Bruchteil einer Sekunde wünschte sie sich, auch eine zu haben. Dann schlug sie sich diesen Gedanken aus dem Kopf und fasste sich. Aus irgendeinem Grund glättete sie ihr T-Shirt.
Sie öffnete die Tür und rechnete damit, gegen die Wand gedrängt zu werden und Handschellen angelegt zu bekommen.
Es war ein Schlafwagenschaffner. Ein Schwarzer in einem makellosen weißen Hemd und einer schwarzen Hose. Er lächelte. Sein Mund bewegte sich, er sagte etwas, aber Gail hörte ihn nicht, weil der »Halleluja«-Chor in ihrem Kopf alles übertönte. Sie verzog ihre Lippen zu einem Lächeln und biss sich in die Wangen, um nicht laut loszulachen, während eine Welle der Erleichterung sie überkam und ihr Schwindelgefühle bereitete.
»Ms. King?«
Einen Augenblick stand sie nur da, dann nickte sie. Sie hatte sich noch nicht an den Namen gewöhnt.
»Ja«, sagte sie und versuchte, unauffällig an dem Schaffner vorbei auf den Gang zu schielen. Keine Bullen. Sie konnte zumindest keine sehen.
»Ich habe ein Fax für Sie.« Er reichte ihr einen einfachen braunen Umschlag, nickte höflich und ging wieder.
Gail nahm noch einmal in beide Richtungen den Gang ins Visier, schloss die Tür und verriegelte sie. Dann lehnte sie sich dagegen und betrachtete den Umschlag in ihrer Hand. Sie grinste, schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst, oder versuchte es zumindest. Ein Fax. Das erste Fax ihres Lebens.
Sie erkannte Mels Schrift mit den schwungvollen Schnörkeln. Es war nur eine ein zige Seite. Unliniertes Papier, keine Überschrift. Kein Absender. Abgeschickt von einer Kinko’s-Filiale in New York. Der Text lautete: »Dein alter Freund hat angerufen und nach dir ge fragt. Wenn du sei ne Nummer haben willst, ruf mich an, wann immer es dir passt. Aber ich rate dir ab. Bleib locker!«
Tom! Gail setzte sich und zerriss das Fax mit akribischer Sorgfalt in tausend kleine Fetzen. Später würde sie verschiedene Toiletten in den nor malen Personenwaggons aufsuchen und die Überbleibsel von Mels Nachricht auf diverse Toiletteneimer und Toiletten verteilen. Vielleicht war sie übervorsichtig. Doch ge nauso, wie ma nche Leute tatsächlich davon überzeugt waren, dass sie gar nicht dünn oder reich genug sein konnten - normalerweise Magersüchtige in Haute Couture -, wusste Gail, dass sie nicht wachsam genug sein konnte. Sie blieb noch eine Wei le sitzen und wartete, bis ihr Herz aufhörte, wie wild zu hämmern.
Tom. Alles, was sie tun musste, um sei ne Aufmerksamkeit zu erlangen, war also, aus dem Gefängnis auszubrechen. Was für ein Typ. Mel hatte recht, das war ihr klar. Sie sollte sich so
fern wie möglich von ihm halten. Mel nicht einmal anrufen. Sollte Mel ihm doch erzählen, er habe nichts von ihr gehört.
Der Zug setzte sich end lich in Bewegung, und Gail saß da und amüsierte sich über das Lächeln auf ihren Lippen. Sie entkam. Sie schaffte es, sie entkam! Ihr Nacken begann zu schmerzen, und sie
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