Gehetzt - Thriller
auf und nahm sie in den Würgegriff. Hau ab. Hau nicht ab. Sie wusste es nicht. Ausgerechnet jetzt, wo sie es wissen musste, war sie unschlüssig. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte und setzte sich neben Gail aufs Sofa.
»Auch wenn es ver rückt klingt«, sagte Diane. »Ich treffe dich in Chicago wieder.«
»Ich kann dir den Kontakt nicht verraten«, entgegnete Gail. »Unmöglich.«
»Das musst du auch nicht. Triff dich einfach nur mit mir. Keine Ahnung, sagen wir bei der Autovermietung Hertz, bei der vom Bahnhof aus gesehen nächsten Station.«
»Toller Plan!«
»Kommst du oder nicht?« Diane sah, wie Gail an ihr vorbei aus dem Fenster starrte, als ob sie gar nicht da wäre. Irgendwohin, wo Diane nie gewesen war.
»Morgen Nachmittag um fünf Uhr. Wenn du nicht da bist, komme ich übermorgen um neun wieder. Falls du dann auch nicht aufkreuzt, sehe ich mir in den Nachrichten an, wo sie dich geschnappt haben.«
»Oder du gehst davon aus, dass ich es geschafft habe«, sagte Gail. »Und mich in Luft aufgelöst habe.«
Diane stand wieder auf und wünschte sich, dass Gail ihre Meinung änderte. Gleichzeitig fragte sie sich, ob Gail vielleicht recht hatte und sie, Diane, im Begriff war, alles zu vermasseln und aus dem Zug direkt in die freudig wartenden Arme der Polizei laufen würde.
Dann folgte ein Moment, in dem etwas in dem Schweigen zwischen ihnen in der Luft hing, das Gefühl, als ob etwas gebrochen würde, vielleicht ein Versprechen, aber sie hatten sich nichts ver sprochen. Diane wollte etwas sagen, wollte Gail gegenüber ihre Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, doch sie hatte keinen Schimmer, wie sie auch nur ansatzweise die richtigen Worte finden sollte. Was auch im mer sie sagen würde, es klänge abgedroschen. Oder wie eine Entschuldigung dafür, dass sie Gail im Stich ließ. Denn so musste Gail es auffassen: dass Diane sich aus dem Staub machte - und vielleicht einen riesengroßen Fehler beging.
»Was auch immer passiert«, sagte Diane, »viel Glück. Es war … ach, was auch immer.« Mit diesen Worten war sie aus der Tür. Im Gehen schwang sie sich einen schwarzen Nylonrucksack über die Schulter, das war al les, was sie mit nahm; den Koffer ließ sie stehen. Sie war froh, dass sie kei ne Worte gefunden hatte, nach allem, was sie durchgemacht hatten. Alles, was Diane je über Kriminelle gedacht hatte, als sie noch in Uniform gewesen war, war durch ihre Zeit hinter Gittern über den Haufen geworfen worden. Gail war auf recht. Gail war eine Inspiration. Vielleicht würden sie sich nie wiedersehen. Sie würde sie vermissen.
Diane verließ den Zug und lächelte dem Schaffner zu, der auf dem Bahnsteig stand und aufpasste, dass niemand beim Aussteigen hinfiel. Sie ließ ihren Blick über den Bahnsteig schweifen. Nichts. Aber sie fühlte sich nackt, dort zu ste hen. Und sie hatte schon auf dem Bahnhof Penn Station geglaubt, vor Angst zu sterben, und sich schutzlos ausgeliefert gefühlt.
Doch jetzt wurde ihr die Bedeutung dieser Worte erst richtig bewusst. Sie sah sich noch einmal um, auch als ihre Füße sich schon in Bewegung setzten und sie mit dem Pulk der anderen Reisenden davontrugen, durch Luft, die so dicht zu sein schien wie Wasser. Sie fühlte sich wie unter Wasser, als ob sie gegen einen Sog ankämpfte und dringend an die Oberfläche auftauchen müsste, um nach Luft zu schnappen.
Keine Bullen. Da war die Rolltreppe. Keine Bullen. Sie trieb auf die Rolltreppe zu, trieb mit dem Menschenstrom. Es lief gut. Sie ging weg. Kam davon. Aber das konnte nicht sein, so glatt konnte es nicht laufen. Doch es war alles so wirk lich, wie es wirk licher nicht sein konnte: al les, Objekte und Menschen um sie herum und sogar die Luft, von der sie umgeben war, nahmen eine so hohe Dichte an, dass sie sie zu erdrücken drohten und ihr das Atmen schwerfiel. Diane ging, umgeben von Menschenmassen, mutterseelenallein. Sie brauchte ihre Partnerin. Sie brauchte Gail.
Gail saß da, die Wände glühten halluzinatorisch beige, flimmerten von irgendetwas, das aussah wie in der brü tenden Nachmittagshitze über einem Highway flirrende Hitzewellen. Sie glaubte, die einzelnen Luftmoleküle im Abteil umhertanzen zu sehen, und hatte das Gefühl, jeden Augenblick ohnmächtig zu werden. Ihr Knöchel pochte. Sie beugte sich vor, steckte ihren Kopf zwischen die Knie und harrte so aus; sie wusste nicht wie lange. Bis das Gefühl vorüberging und sie allein dasaß in ihrem Abteil, sich zwang, sich nicht vom Fleck zu rühren,
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