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Gehetzt - Thriller

Titel: Gehetzt - Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wozencraft Baerbel Arnold Velten Arnold
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konzentrierte sich darauf, die Muskeln ihrer verspannten Schultern und ihres Rückens dazu zu bringen, sich zu lockern. Der Zug fuhr jetzt wirklich, er rollte aus dem Bahnhof. Auf Wiedersehen, Cleveland. Das war gut. Das war perfekt. Warum, zum Kuckuck, war Diane durchgedreht? Alles war bestens. Oder zumindest beinahe. Einigermaßen. Vielleicht. Noch sechs Stunden bis Chicago. Ob Diane da sein würde? Sie fragte sich, ob sie überhaupt aufkreuzen sollte. Ein Schwindelgefühl überkam Gail, doch anstatt ihre Wachsamkeit zu erhöhen, ließ sie sich vom Schwindel einlullen. Ließ sich hineinfallen. Sie ließ sich auf ihren Platz sinken und streckte die Beine aus. Sie schaffte es: Sie entkam. Sie floh. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gefühlt hatte. Dass sie selber für ihr Leben verantwortlich war. Dass sie ein Stück weit selber eine gewisse Kontrolle über ihre Zukunft hatte. Dass sie ihren Verstand einsetzen musste, um zu überleben … außerhalb eines Käfigs.
    Und dann erkannte sie das Gefühl: Es war jene rauschartige Hochstimmung, die einen befiel, wenn man etwas riskierte. Und sie wusste genau, wann sie das letzte Mal dieses Gefühl gehabt hatte.
    Tom. Es wäre interessant zu wissen, wo er war und was er im Schilde führte. Dass er etwas im Schilde führte, da war sie sich sicher.
    »Wer weiß?«, fragte sie leise. »Und wen kümmert’s?« Dann wurde ihr bewusst, dass sie mit sich selbst redete, und sie zog sich wieder in ihre Gedanken zurück. Sie hatte sich gelegentlich in ihrer Zelle bei Selbstgesprächen ertappt, wenn sie allein
gewesen war. Bloß, um eine Stimme zu hören, die keine Befehle brüllte oder Obszönitäten ausspie. Manchmal war es die Stimme eines Freundes, andere Male die eines Staatsanwalts, der sie auf Gedeih und Verderb ins Kreuzverhör nahm.
    Mit Sicherheit hatte Tom jetzt ein neues Publikum. Das war es, was sie für ihn gewesen war, kam ihr in den Sinn. Toms Publikum. Nicht ganz am Anfang. Am Anfang hatte er dafür gesorgt, dass sie sich gefühlt hatte, als wäre sie für ihn der wichtigste Mensch auf der ganzen Welt. Doch später hatte sie genau diese Rolle eingenommen, obwohl ihre Leidenschaft nicht nachgelassen hatte. Sie war Teil seines Publikums geworden. Siebte Reihe, Mitte, um genau zu sein. Aber dennoch.
    »Vielleicht ist er erwachsen geworden.« Sie hatte wieder laut gesprochen. Vielleicht unterhielt er sich bei einer Tasse Kaffee mit einem Freund. Wem machst du etwas vor? Diesmal wieder in ihrem Kopf. Die Stim me der Vernunft? Jene Stimme, deren Gesellschaft sie am meisten und am wenigsten schätzte. Jene Stimme, die oft zu beschäftigt war, um auf eine Tasse Tee vorbeizuschauen.
     
    Aus der Dämmerung wurde schnell Finsternis. Diane kauerte auf dem Bahndamm unter einer niedrigen Eiche. Unter ihr wanden sich die Schienen wie ein stählernes Nervensystem in den Bahnhof. Schweiß strömte ihr aus allen Poren, doch sie hatte zumindest verschnauft. Sie wartete. Wartete darauf, dass die Polizisten und ihr Hund auf den Schienen auftauchten. Sie wartete noch länger. Zwanzig Minuten. Dreißig.
    Nichts.
    In zwischen war es stock dun kel, und sie hör te Ver kehrsgeräusche. Die Geräusche vorbeirasender Autos auf einer Schnellstraße, unten auf der anderen Seite des Bahndamms. Diane stand auf und sah sich um. Sie befand sich direkt an einem Verkehrsknotenpunkt, an dem Highways zusammenliefen,
die sich zu kleeblattförmigen Ausfahrten verzweigten. Große grüne Schilder wiesen auf Namen von Fernstraßen und Landstraßen hin, von denen Diane noch nie gehört hatte. Sie musterte die Umgebung, den müllübersäten Rand der Stadt, und ihr Blick fiel auf ein Schild, das die saubersten Toiletten Amerikas anpries. Sie könnte sich in der Toilette verstecken, wie sie es einmal getan hatte, als sie in der sechsten Klasse gewesen war und vier Mädchen auf der Main Street vor der Apotheke des Kaufzentrums versucht hatten, sie zu beklauen. Am helllichten Tag nach der Schule. Es waren die vier stadtbekannten Raufboldinnen gewesen. Diane hatte sie abgewehrt, indem sie zur totalen Überraschung der Mädchen wild um sich getreten und geschlagen hatte. Dann war sie in eine Apotheke geflohen und an dem Wasserspender vorbei in die Kundentoilette gestürmt. Fortan hatten sie sie in Ruhe gelassen.
    Diane fing an zu trampen, den Rucksack locker über die Schulter geschlungen. Dabei marschierte sie auf die saubersten Toiletten Amerikas zu, die gleich da drüben waren, am Rand

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