Gehetzt - Thriller
legte ihr einen Arm um die Schultern. Gail
schluchzte, fing sich, kämpfte gegen das Schluchzen an und spürte, wie sich in der Mitte ihrer Brust Hitze aufbaute, eine Bombe, die darauf wartete zu explodieren.
Sie wusste selber nicht, was mit ihr los war. Sie spürte, dass sich ihr Gesicht verspannte, dass ihre Lungen nach Luft rangen; sie erstickte, konnte nicht mehr klar sehen. All die Jahre, all diese Jahre hinter Gittern, und jetzt wollte sie so verzweifelt in die Freiheit entkommen, doch die Realität hielt sie gefangen: die Erkenntnis, dass sie für den Rest ihres Lebens auf der Flucht bleiben würde. Es würde kein Entrinnen geben, keine Atempause, sie würde immer mit der Angst leben müssen, gefasst und wieder eingesperrt zu werden. Den Geschmack des Lebens kennengelernt zu haben, um dieses Geschmacks dann wieder beraubt zu werden. Sie bereute ihre Tat. Sie bereute sie mehr, als irgendjemand von ihnen es sich je würde vorstellen können. Und überhaupt, wer waren sie eigentlich, dass sie sich anmaßten zu bestimmen, was Gerechtigkeit war? Woher sollten sie wissen, welche Strafe angemessen war, wenn sie, die die Strafen auferlegten, nie am eigenen Leibe gespürt hatten, wie es war, eingesperrt zu sein? Wenn sie die Verheerungen der Einsamkeit nie kennengelernt hatten?
Und dann spürte sie Dia nes Arm um ihre Schultern, wie sie sie hochzog und mit dem um ihre Schultern gelegten Arm aus dem Zimmer führte. Wie ein Soldat, der einen verwundeten Kameraden von der Frontlinie wegschleppt, holte Diane Gail aus ihrem unsichtbaren Käfig, leitete sie über den Flur zur Haustür und hinaus zum Auto.
Tom stieg aus und half Diane, Gail ins Auto zu verfrachten. Diane legte ihr den Si cherheitsgurt an, schlug die Tür zu und krabbelte auf den Rücksitz. Michelle und Chris standen einfach nur da und sahen zu.
»Alles in Ordnung mit ihr?«, flüsterte Michelle und dann, lauter, an Gail gewandt: »Alles in Ordnung mit dir?«
Gail starrte aus dem Fenster und nickte ein kaum wahrnehmbares Nicken.
Chris warf die Taschen in den Kofferraum und eilte um das Auto herum, um Gail einen Abschiedskuss zu geben.
»Ruf uns an, wenn du kannst«, sagte er an Tom gewandt und eilte zurück zur Veranda.
Bevor sie aus der Zufahrt gebogen waren, war das Haus bereits wieder verdunkelt. Diane stellte sich vor, wie Michelle versuchte, möglichst verschlafen auszusehen, wenn sie an der Tür klopften. Falls sie überhaupt klopften. Vielleicht traten sie die Tür auch ein fach ein. Allerdings würden sie sie ohne einen Rammbock kaum aufbekommen. Sie war aus schwerem Eichenholz. Es war eine schöne Tür. Vielleicht kreuzte auch gar niemand auf. Vielleicht gaben sich die Vertreter der Staatsmacht mit dem zufrieden, was die beiden ihnen während ihrer Befragung erzählt hatten. Ha ha! Das war ge nauso wahrscheinlich, wie dass der Papst ein Baptist war.
Diane lehnte sich zurück, legte ihren Sicherheitsgurt an und musterte Gail. Sie steckten ziemlich in der Scheiße.
Tom fuhr schnell und gekonnt. In weniger als einer Minute, wie es schien, hatte er die Hauptstraße verlassen, was für sich genommen ja noch kein Kunststück war, fuhr auf einer kleineren Landstraße weiter, die aussah wie eine mit einer Ölspur überzogene Sandpiste. Er brauste so schnell durch den Wald, dass die Baumstämme sich im Licht der Scheinwerfer in verschwommen vorbeihuschende braune Striche verwandelten.
Diane legte ihren linken Fuß auf das Knie ihres rechten Beins, zog sich ihre Socke und ihren Stiefel an und nahm sich dann den anderen Fuß vor. Sie würde fragen müssen, warum Tom eigentlich mitkam. Sie musste es einfach fragen, beschloss aber, noch zu warten. Es machte die Dinge einfacher. Sie musste nicht mehr fahren, und die Ergänzung ihres Zweiergrüppchens um einen weißen Mann trug vielleicht
dazu bei, dass sie nicht entdeckt wurden. Außerdem brauchte sie womöglich Hilfe mit Gail, die nun of fenbar eingeschlafen war. Vielleicht hatte sie das im Gefängnis gelernt: Wenn die Lage so beschissen ist, dass es keinen Ausweg zu geben scheint, schließ einfach die Augen, und träum was Schönes.
Tom konzentrierte sich auf die Straße. Diane sah über ihre Schulter und erwartete halbwegs, Scheinwerfer zu sehen. Hinter ihnen wirbelten im roten Schein der Rücklichter rotbraune Staubwolken auf, und immer wenn Tom auf die Bremse trat, leuchte das Rot noch intensiver, aber er bremste nur selten.
»Wo bringst du uns hin?« Diane hielt nach irgendwelchen
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